Der Ruf des letzten Rehs

Aus der Kälte in die Hölle,

Hineingestoßen nackt und bloß:

Ich bin von meiner Heimat nicht fortgegangen –

Warum also wurde ich ihrer beraubt?

Boris Tschitschibabin

Aus der Höhe eines Adlerflugs konnte man sehen, wie eine verschlungene Rinne, die mit einer dicken Schneeschicht bedeckte Mugodschary-Ebene durchzog – es war die Niederung des Flussbetts der Elek. Sich durch die Steppe windend, zerriss sie die weiße Schneedecke wie eine feine, aber entschlossene Linie eines Malerpinsels. An einigen Stellen hoben sich gelbe Sandabbrüche an ihren Ufern scharf ab und setzten Kontraste in die monochrome Winterlandschaft. Die Kalkfelsen hingegen verschmolzen mit dem endlosen weißen Teppich, fast unsichtbar in diesem stummen Reich der Kälte.

Elek – ein Flussname, der aus dem Kasachischen als "Reh" übersetzt wird. Einst gab es hier zahllose dieser Tiere, als hätte die Natur selbst diesen Ort für ihr anmutiges Dasein auserwählt. Dieser Steppenfluss war seit jeher ein wesentlicher Bestandteil der lokalen Landschaft. Sein Flussbett, mal stürmisch und ungestüm, mal träge und gemächlich, schien im Einklang mit der Steppe zu atmen und erinnerte daran, dass auch unter dem weißen Tuch des Schnees das Leben verborgen lag, bereit, mit den ersten Frühlingsstrahlen zu erwachen.

Am Ende einer klaren, windstillen Nacht legte sich ein feiner Hauch von Frostkristallen um die Stämme der Uferweiden. Der Reif, wie ein zarter Schleier, überzog die Zweige der Bäume und des Saxauls, die runden Schilfrohre und die langen, trockenen Blätter des Rohrkolbens. Selbst ihre gewöhnlich dunkelbraunen Kolben wirkten nun, als wären sie mit weichem, weißem Moos bedeckt. Der Frost der letzten Tage hatte die ohnehin silbrigen Rispen des Schilfs noch heller gemacht, sodass sie wie zerbrechliche Schneeschmuckstücke aussahen. An den Sträuchern entlang des Ufers hingen Spinnweben, die im Raureif wie flauschige Girlanden erstarrt waren – ein Überbleibsel des vergangenen Altweibersommers.

Alles war in makellosem Weiß gehüllt und atmete den Zauber des Winters. Nur vereinzelt unterbrachen dunklen, spiegelnden Wasserflecken dieses Reich der Reinheit – nicht zugefrorene Stellen des Flusses, wo mächtige Quellen aus der Erde sprudelten und daran erinnerten, dass die Natur selbst in der tiefsten Kälte niemals völlig zum Stillstand kommt.



In einem Moment flackerte ein grauer Schatten in den Uferdickichten auf. Ein elegantes braunes Tier mit einem kurzen weißen Schwanz trat vorsichtig aus dem dichten Gestrüpp und hinterließ tiefe Hufabdrücke im weichen Schnee. Das Reh näherte sich dem Rand des glänzenden Eises, seine Bewegungen waren anmutig, als hätte die Natur sie bis ins kleinste Detail perfektioniert. Es blieb stehen, hob aufmerksam den Kopf und blickte sich wachsam um: ein Blick in die eine, dann in die andere Richtung, gefolgt von einem kurzen Rückblick.

Der Jäger, der sich in der Nähe verborgen hielt, lächelte leicht. Er wusste, dass Rehe die Welt nicht mit den Augen, sondern mit Ohren und Nase wahrnehmen. Ihr Geruchssinn und Gehör waren makellos, doch ihr Sehvermögen ließ zu wünschen übrig. Der Bock, der keine Gefahr witterte, beugte sich sicher zum Wasser und begann zu trinken. Seine kräftigen, bereits gut entwickelten Geweihe mit doppelter Verzweigung und beginnendem Bogen nach innen deuteten auf sein Alter hin – dieser wilde Bock, wie er auch genannt wird, war über zwei Jahre alt.

Der Jäger kannte die ungeschriebene Regel: Auf junge Tiere zu schießen ist tabu. Ihre Geweihe sind noch nicht schön genug und fehlen die perfekten Bögen, die ihnen die Form einer von Jägern geschätzten Lyra verleihen. Auch das Fleisch des Jungtiers hat nicht den reichen Geschmack, den man von einer reifen Trophäe erwartet.

Die Welt umher verharrte in morgendlicher Stille, nur das Reh, das den Kopf gesenkt hatte, trank Wasser, ohne zu ahnen, dass sein unsichtbarer Beobachter bereits beschlossen hatte, es in Ruhe zu lassen.

Zwischen dem Jäger und der Beute lagen etwa hundert Meter. Der Mann hielt sogar den Atem an, als ob die gesamte Umgebung mit ihm innehielt. Seine Muskeln spannten sich wie stählerne Saiten, und sein zielgerichtetes Auge schien weiter und klarer zu sehen als sonst. In ihm erwachte das unvermeidliche Verlangen eines Jägers: die Beute nicht zu verpassen und sicher zu treffen.

Er hob die Kimme auf die Rückenlinie des Tieres, und mit seinem halb erfrorenen Finger begann er vorsichtig und gleichmäßig, den Abzug zu drücken.

Die Stille wurde von einem ohrenbetäubenden Schuss durchbrochen. Der Rehbock brach zusammen, als wäre er gefällt worden, und stieß nur ein einziges tiefes, zischendes Röhren aus – einen letzten Warnruf, der seine Artgenossen auf die Gefahr aufmerksam machen sollte. Der Jäger verharrte, erwartend, dass aus dem Dickicht gleich mit Getöse und Rascheln eine Herde hervorstürzen würde – einige Weibchen und Jungtiere, die gewöhnlich den älteren Bock begleiteten.

Doch nichts geschah. Die Umgebung blieb in gespannter Stille eingefroren. Nur von den Uferweiden erhob sich mit lautem Krächzen ein schwarzer Schwarm Krähen, der die weiße Raureifdecke aufwirbelte und der Szene eine unheilvolle Atmosphäre verlieh.

In demselben Augenblick durchbrach ein heller Sonnenstrahl, der hinter der Kante einer hohen Kalkklippe am gegenüberliegenden Ufer hervorkam, die Augen des Jägers und zwang ihn, sie zusammenzukneifen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich die Landschaft vor ihm bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die scharfen Konturen und dunklen Linien der Ufervegetation waren verschwunden und hatten sich in einem grenzenlosen, blendend weißen Licht aufgelöst, in dem selbst Schatten unerreichbar schienen.

Einen Moment zuvor hatte der Adlerblick des Jägers noch jede Kleinigkeit erfasst – einen gewundenen Ast, die kaum sichtbare Spur von Hufen im Schnee, das feine Spiel von Schatten in den Ufersträuchern. Doch nun hatte die Natur alles in ein einziges, alles umfassendes Strahlen verwandelt.

– Wie verhängnisvoll doch ein einziger Moment sein kann, nur ein winziger Schritt des Minutenzeigers, – dachte er und unterdrückte einen Seufzer. Langsam erhob er sich aus seinem Versteck am Rand des Sandabbruchs.

Das einheimische Oberhaupt (kas.-Bay) Baymuchambet Schukenow warf einen flüchtigen Blick auf den Horizont, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Beute zuwandte.

Zuerst richtete er seine auf die Stirn gerutsene rote Fuchsmütze und klopfte die Mischung aus Schnee und Sand ab, die sich während des langen Wartens auf der Brust und den Ellbogen seines halblangen Mantels aus weißem Schafsfell angesammelt hatte. Dann zog er den Gürtel aus robustem, verziertem Leder mit einer Metallschnalle fester und bemerkte mit Unmut die schmutzigen Flecken an den Knien seiner hellen Pluderhosen, die an den Innenseiten mit Einsätzen aus Schaffell verstärkt waren. Er warf das Gewehr über die Schulter und begann, in die Niederung des Flusses hinabzusteigen. Geschickt hielt er das Gleichgewicht am steilen Abhang, wobei er seine Schritte in den Filzstiefeln mit Gummigaloschen – von den Kasachen Baypak genannt – vorsichtig abbremste.

Den dunklen Wasserflecken umgehend, wo das klare Quellwasser das Eis unterspülte, näherte sich Baymuchambet vorsichtig dem gestürzten Tier.

Der schlanke Rehbock lag reglos da, fast verschmolzen mit der weißen Schneedecke, die nun von feinen, perlenartigen Blutstropfen geschmückt wurde, die sich fächerförmig um ihn herum ausbreiteten.

Baymuchambet hockte sich daneben und strich mit der Hand über das kurze, dunkle Fell auf dem Rücken des Tieres, das einen leicht bräunlichen Glanz hatte. Die weichen Farbverläufe an den Flanken – von Grau mit Creme übergehend zu fast reinem Weiß am Bauch – faszinierten ihn und erinnerten an die natürliche Harmonie der wilden Natur. Vorsichtig berührte er die breiten, dicht behaarten Ohren und betrachtete die mit knorrigen Wucherungen bedeckten Hörner, die das Alter und die Würde des Tieres bezeugten.

Seine Finger legten sich sanft auf die weit geöffneten, agatenen Augen des Rehbocks, die von langen, dichten Wimpern umrahmt waren, als wollten sie dem Tier seinen letzten Frieden schenken. Flüsternd sprach er Worte der Vergebung, gerichtet an den Herrscher aller Lebewesen, und versprach, dass dieses Geschenk der Natur weise und mit Dankbarkeit genutzt würde.

Nachdem er sein Gebet beendet hatte, strich Baymuchambet mit trockenen Handflächen über sein Gesicht, als wollte er die Worte des Dankes und der Vergebung versiegeln. Dann brachte er die Finger scharf zum Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus, so laut, dass das Echo über die verschneite Ebene rollte.

Auf der Spitze des Sandabbruchs, wo der Jäger vor Kurzem noch auf seine Beute gewartet hatte, erschien ein brauner Hengst. Sein kastanienbraunes Fell wirkte tief und satt dank der dichten schwarzen Haare, die besonders an Kopf, Hals und den oberen Beinen auffielen. Mit jeder seiner Bewegungen wehte die dichte, pechschwarze Mähne in der Luft wie züngelnde Flammen. Aus seinen breiten Nüstern strömten Dampfwolken, die den Eindruck erweckten, das Pferd würde förmlich Hitze ausstrahlen.

– Kein Pferd, sondern ein Feuer! – rief Baymuchambet voller unverhohlenem Staunen aus, während er seinen treuen Begleiter mit Stolz betrachtete.

Hinter dem braunen Hengst tauchten zwei Reiter am Rand des Abhangs auf. Ohne zu zögern, stiegen sie ab und begannen vorsichtig den steilen Hang hinunterzusteigen, bemüht, dem selbstsicheren und schnellen Schritt des Pferdes zu folgen, das als erstes zu seinem Herrn eilte.

– Boran! – rief Schukenow laut seinem treuen Gefährten zu, dem Pferd, das er selbst aufgezogen und ausgebildet hatte. Der Name des Hengstes, übersetzt als „Schneesturm“ oder „Unwetter“, passte perfekt zu seinem ungestümen Charakter und seinem temperamentvollen Wesen.

Das Herz des Bay füllte sich mit Stolz, als er sah, wie Boran, ohne auf die Steilheit des Abhangs zu achten, sicher den Weg hinabging und die Menschen hinter sich ließ. In diesem Moment blitzte vor den Augen seines Herrn eine Erinnerung auf: im Frühling hatte derselbe Hengst, getrieben von einem Naturinstinkt, eine rossige Stute gespürt. Boran folgte damals seinem tierischen Trieb und galoppierte davon, ohne auf die Befehle zu achten. Schukenow musste Hunderte von Kilometer zurücklegen, um den Flüchtigen einzuholen.

– Ein Kletterkünstler! – rief der Bay mit unverhohlenem Stolz aus, während er sich leicht in den Sattel schwang. Er strich Boran über die flatternde, pechschwarze Mähne, und das Pferd schien durch das Lob noch lebhafter zu werden. Es schnaubte stolz und trotzte dem frostigen Morgen.

Die Diener hoben vorsichtig den Körper des Rehbocks auf und befestigten ihn geschickt auf dem Widerrist des Bay-Hengstes. Boran stand ruhig da, als ob er die Wichtigkeit des Moments verstand, bewegte nur leicht die Ohren und ließ Dampfwolken aus seinen Nüstern aufsteigen.

Schukenow, der bereits seinen kastanienbraunen Hengst bestiegen hatte, gab ein Zeichen, und die drei Reiter setzten sich im Trab in Richtung Westen in Bewegung. Ihre Silhouetten lösten sich allmählich in dem grenzenlosen Weißen der winterlichen Steppe auf, während das rhythmische Klappern der Hufe weit über das gewundene Tal des Elek hinaus widerhallte.

Nur wenige Minuten später spürte Baymuchambet, wie die Kälte unter seine Kleidung drang und sich eine seltsame, fast absurde Müdigkeit in seinem Körper ausbreitete. Dieses Gefühl war ihm vertraut: Nach einer erfolgreichen Jagd, wenn die erschöpfende Anspannung des Wartens, bei der jede Faser seines Körpers wie ein einziger Nerv gespannt war, nachließ, stellte sich eine völlige Erschöpfung ein. Die verbrauchten Kräfte und die Energie schienen ihn mit einem Schlag zu verlassen, und sein Körper fühlte sich schwer und träge an, als wäre er mit weichem Heu gefüllt.

Bay ahnte bereits, dass ihn zu Hause ein weiterer Streit mit seiner jungen Frau erwarten würde. Abyz, die Tochter des großen Sultans Aryngaziev, des Herrschers über die weiten Ländereien von Aktöbe und eines der reichsten und einflussreichsten Mitglieder des Tabyn-Stammes des jüngeren Kasachen-Hordes, machte ihm immer Szenen, wenn er von der Jagd zurückkehrte.

Ihre Verärgerung war verständlich. Vor Kurzem hatte sie ihm einen Erben geschenkt, und es war natürlich, dass sie sich wünschte, ihr Mann wäre öfter zu Hause, würde mehr Zeit mit der Familie verbringen und sich nicht ständig auf nächtliche Jagden begeben, selbst im Winter.

Es wäre eine Sünde, auch nur zu denken, dass Baymuchambet die Jagd bevorzugte, um der Gesellschaft seiner Frau zu entgehen, die ihm vielleicht langweilig geworden war. Im Gegenteil, mit seinen Jagdtrophäen wollte er Abyz noch mehr gefallen, ihr seine Stärke, seinen Mut und seine Würde beweisen. Jedes Mal, wenn er ihr das erlegte Tier zu Füßen legte, war es, als würde er ihr immer wieder aufs Neue seine Liebe schwören.

Es war ihm gleichgültig, dass die wunderschöne Abyz ihn oft tadelte. Bay bemerkte nur zu gut, mit welcher Freude sie in ihren Truhen wühlte, die mit Fellen und Leder überquollen. Wie alle Frauen liebte auch sie die schönen Dinge, die ihr Mann für sie erbeutete.

Abyz wusste um die grenzenlose Liebe ihres Baymuchambet. Genau diese Gewissheit machte sie unersättlich in ihrem Wunsch, jedes einzelne Moment mit ihm zu teilen. Deshalb litt sie so sehr unter ihren Trennungen, besonders während der häufigen nächtlichen Winterjagden.

Abyz hätte Baymuchambet leicht dazu bringen können, zu Hause zu bleiben – ein kleiner Hinweis auf ihre hohe Herkunft hätte genügt. Das Land, auf dem der Stamm der Schukenow heute lebte, gehörte ihr. Die fruchtbaren Weiden entlang des Quellflusses Elek waren Teil der Mitgift, die Abyz in die Ehe eingebracht hatte. Doch eine liebende Ehefrau wie Abyz hätte ihren Mann niemals gedemütigt, indem sie ihn an ihre noble Abstammung oder an den Reichtum erinnerte, den sie in die Familie gebracht hatte.

Niemals wäre es ihr in den Sinn gekommen, dieses Privileg auszunutzen. Sie hielt es für unwürdig und fürchtete, unbeabsichtigt seinen Stolz zu verletzen. Das Einzige, was sie sich erlaubte, war ein leichter, fast unmerklicher Vorwurf. Mit tadelndem Blick in seine Augen konnte Abyz auf ihre ganz weibliche Art leise, aber mit Gefühl sagen:

– Fehlt es dir zu Hause etwa an Fleisch?

Für die Jagd auf Rehe hatte Abyz jedoch kein Mitleid mit ihrem Mann:

– Als ob es dir an anderen Tieren mangeln würde! Rehe findet man jetzt kaum noch, selbst wenn man danach sucht. Und das nur, weil die Stanizen der Ukrainer, wie kleine Ziegenkotkugeln, die Ufer unseres Flusses überflutet haben und diese grazilen Tiere verschrecken. Und du, anstatt sie zu verschonen, tötest du auch noch die letzten. Wenn das so weitergeht, werden die Rehe ganz verschwinden, und dann muss man den Fluss Elek umbenennen…

Der Jäger strich sanft über das weiche Fell des Rehs, das auf seinem Sattel lag, und überlegte sich insgeheim, wie er sich dieses Mal vor Abyz rechtfertigen könnte:

– Ich hatte wirklich keine andere Wahl, – begann er in Gedanken. – Ich wartete auf einen Fuchs oder zumindest auf einen Steppenhasen, aber genau da trat mir dieser Bock direkt vor den Lauf. Hätte ich so eine Beute entkommen lassen können? Dafür hast du jetzt die besten Wildlederschuhe der ganzen Gegend, gemacht aus der Haut eines Rehs von den Ufern des Elek. Und das alles nur, weil ich dich liebe und du meine Einzige bist, für immer.

Diese Gedanken, durchdrungen von Liebe und Wärme, umhüllten ihn wie eine Decke und wärmten ihn von innen. Der Frost schien nicht mehr so hart, und der Weg nicht mehr so lang. Schon bald erschienen auf einer Anhöhe, in der Nähe eines steinernen Friedhofs, einige graue Jurten und zwei halb in die Erde gebaute Häuser aus Schiefer.

Am Eingang einer der größeren und längeren Erdbehausungen wartete Abyz auf Baymuchambet. Auf ihrem Kopf thronte ein hoher, schneeweißer Turban, wie eine Krone, die ihre stolze Haltung und edle Herkunft unterstrich. Kaum hatte sie ihren Ehemann erblickt, griff sie eilig nach den Zügeln seines Pferdes und brachte das Tier zum Stehen.

Baymuchambet, innerlich schon auf die nächste Diskussion vorbereitet, sprang geschickt vom Sattel. Als er nähertrat, legte er sanft beide Hände auf Abyz’ Schultern, bemüht, die Stimmung in ihrem Gesicht zu lesen. Doch der besorgte Ausdruck in ihren Augen ließ ihn sofort aufhorchen.

– Was ist passiert? – wollte er fragen, doch Abyz kam ihm zuvor. Sie nickte in Richtung der Tür:

– Komm ins Haus, man wartet dort auf dich!

In ihrer Stimme lag eine zurückhaltende Beunruhigung, die die Anspannung in der Seele des Jägers nur verstärkte.

Hätte Bay gewusst, dass die schwarzen Raben, die er bei Tagesanbruch mit seinem Schuss aufgescheucht hatte, bereits Unheil herbeigekrächzt hatten…

– Wer ist so früh hier erschienen? – fragte er leise und blickte Abyz in die Augen, als hoffe er, dass sie ihm sagen würde, alles sei in Ordnung.

– Zwei Boten aus Aktöbe, – antwortete sie mit spürbarer Anspannung. – Ein russischer Offizier und sein Dolmetscher.

In ihren Worten lag nichts Überflüssiges, doch Baymuchambet verstand: – der Besuch der unerwarteten Gäste versprach nichts Gutes.

Im geheizten Raum, neben dem großen Kasan, hantierten zwei Dienstmädchen. An der Eingangsecke, wo normalerweise die Dienerschaft Platz nahm, saßen nun die ungebetenen Gäste und tranken Tee. Ein kleiner, untersetzter Kasache, gekleidet in einen Infanteriemantel aus grobem, grau-braunem Tuch ohne Abzeichen, sprang sofort auf und begrüßte den Hausherrn mit einer unterwürfigen, fast schmeichelnden Höflichkeit. Er stellte sich als ein Sohn der Familie Isengalijew vor. Die Lichtstrahlen der Petroleumlampe spiegelten sich in seiner gesprungenen Brille und in den blank polierten, flachen Kupferknöpfen seiner Kleidung.

Der russische Offizier, offenbar ein niederrangiger Befehlshaber, entschuldigte sich fast für das so frühe und unvermittelte Eindringen, indem er zögernd seine Teetasse beiseitestellte. Doch als er sich an den Zweck seines Besuchs und seine damit verbundene Wichtigkeit erinnerte, richtete er sich nur leicht auf, nickte flüchtig mit dem Kopf und setzte sich wieder bequem hin, um seinen Tee weiter zu schlürfen.

– Verehrter Myrza, – begann der Dolmetscher, – uns wurde befohlen, Ihnen persönlich ein Dekret des russischen Ministeriums zu überbringen.

Das Wort „Myrza“, das im kasachischen „Herr“ oder „Edler“ bedeutet, war eine Anrede, die den hohen Status von Baymukhambet betonte. Der offizielle Tonfall des Dolmetschers war betont respektvoll, aber dennoch schwang eine Spur von Anspannung darin mit.

Das Hauspersonal half dem Bay, seinen Schafspelzmantel und seine Baypak auszuziehen. Abyz bot ihrem Mann an, die traditionellen, dünnen Lederschuhe namens Masi zu tragen, die im Haus für Wärme und Bequemlichkeit getragen wurden. Doch Baymukhambet lehnte ab und stieg in seinen Filzstrümpfen, die bis zu den Knien reichten, auf die niedrige Sitzbank, die den restlichen Raum einnahm und mit einem kostbaren Teppich bedeckt war.

Er ging in die rechte Ecke des Hauses und warf einen Blick in die Kinderwiege, die aus Zweigen der Spiersträucher geflochten war. Die Wiege war zur Hälfte bedeckt, gemäß der Tradition, mit sieben symbolischen Gegenständen: einem Tschapaan, einem Mantel aus Schaffell, einer Pelzjacke, einem Zaumzeug, einer Peitsche und einer speziellen Decke. Darin schlummerte ihr Erstgeborener. Als er das friedliche Gesicht des schlafenden Babys betrachtete, beugte sich Baymuchambet über die Wiege und flüsterte die Wiegenlieder „Äldi-äldi“, wiegte sanft seinen Sohn und küsste ihn liebevoll auf die Stirn.

Aus irgendeinem Grund verweilte Baymuchambet Blick auf einem der vielen Säbel, die die Wand schmückten. Seine Hand griff wie von selbst danach, um die Waffe zurechtzurücken, als hinge die Ordnung im Haus von ihrer exakten Position ab. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles an seinem Platz war, setzte sich der Bai an die Stirnseite des niedrigen Tisches, wobei er die Beine im Schneidersitz darunter schob.

Sein Verhalten konnte überheblich wirken. Es schien, als bemerkte oder hörte er die Boten gar nicht. Die Kaumuskeln des russischen Offiziers begannen vor offensichtlicher Verärgerung unruhig zu zucken.

Abyz, bemüht, die Spannung zu mildern, reichte ihrem Mann eine Schale mit Tee. Sie verstand genau: Hinter dieser scheinbaren Gleichgültigkeit verbarg der Bay seine Verunsicherung und Gedanken. Er analysierte die Situation sorgfältig, überlegte seine nächsten Schritte und bereitete eine angemessene Antwort vor.

Baymuchambet musterte gemächlich, fast herausfordernd, erneut die ärmliche, eindeutig fremdartige, halbmilitärische Kleidung des Übersetzers. Dann nahm er einen kräftigen Schluck des heißen, aromatischen Tees, blickte seinen Gast kurz an und sagte knapp:

– Was hast du gesagt?

Der Übersetzer warf dem Offizier einen besorgten Blick zu, suchte nach Unterstützung, bevor er sich, die Zähne zusammenbeißend und seinen Ärger mühsam unterdrückend, erneut an den Bay wandte:

– Uns wurde befohlen, Ihnen persönlich ein Dekret des russischen Ministeriums zu überbringen.

Baymuchambet sah den Gast aufmerksam an und sprach ruhig, aber mit einer spürbaren Strenge in der Stimme:

– Ich denke, du hast die Traditionen unseres Volkes nicht vergessen: Für eine gute Nachricht steht dir ein Süjinschi (ein Geschenk für freudige Neuigkeiten) zu, aber für eine schlechte könnte man dir auch den Kopf abnehmen.

– Was habe ich denn damit zu tun? – murmelte Isengalijew hilflos und spürte, wie ein Kloß in seinem Hals aufstieg. – Ich bin doch nur der Übersetzer.

In diesem Moment öffnete sich die Tür der Halberdhütte, und die Verwandten des Bays traten ein. Wie sich herausstellte, hatte Abyz, das Unheil witterte, Boten nach ihnen geschickt. Sie hielt dies für notwendig – es war selten, ja vielmehr noch nie vorgekommen, dass russische Offiziere in ihre Gegend kamen.

Baymuchambet war über den unerwarteten Besuch seiner Verwandten überrascht, fand sich jedoch schnell zurecht. Er warf einen Blick in Richtung seiner Frau und nickte ihr dankbar zu.

Die beiden Brüder von Baymuchambet, die den Winter mit ihren Familien und ihrer Herde etwas flussaufwärts verbrachten, nahmen routiniert Plätze zur Rechten des Bais ein.

Der Bay Azamat, der Onkel des Hausherrn, setzte sich mit seinen Söhnen an die linke Wand. Statt einer Begrüßung murmelte er mürrisch:

– Ich hoffe, dass dieses Treffen wirklich wichtig ist. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Morgengebet unterbrochen, und wir sind zehn Kilometer im Galopp geritten.

– Das werden wir gleich herausfinden, – erwiderte Baymuchambet, trank seinen Tee in einem Zug aus und wandte sich streng an die königlichen Gesandten:

– Mein Herz sagt mir, dass eure Nachricht nichts Gutes bringt. Sprecht, wenn ihr schon hier seid!

Isengalijew übersetzte die Worte ins Russische. Der Offizier erhob sich, richtete sich auf und zog gemächlich eine Schriftrolle mit einem großen Siegel aus seiner Feldtasche. Demonstrativ, sodass alle Anwesenden es sehen konnten, löste er das Siegel, entrollte das Dokument und begann vorzulesen:

– Auf Grundlage des höchsten Erlasses Seiner Kaiserlichen Majestät über die bäuerliche Bodenordnung verfügen wir, – der Offizier hielt inne, um dem Übersetzer Zeit zu geben, die Bedeutung der Botschaft den Angehörigen des Bais in kasachischer Sprache zu übermitteln, und fuhr dann fort: – Da die Hauptwirtschaftsform der kasachischen und kirgisischen Bevölkerung die Viehzucht ist und sie einen nomadischen Lebensstil führen, sollen alle fruchtbaren Gebiete in der Nähe von Flüssen und Wasserstellen dem Umsiedlungsfonds übergeben werden, um damit die von der Leibeigenschaft befreiten Bauern mit Land auszustatten.

Seine Worte schlugen wie ein Hammerschlag und zerschlugen die Stille, sodass die Anwesenden sich besorgt Blicke zuwarfen.

Isengalijew senkte, während er übersetzte, die Stimme, als wolle er das Gesagte abmildern. Doch selbst in seinen ruhigen Tonlagen schwang eine spürbare Unruhe mit.

Baymuchambet saß regungslos da, seinen Blick fest auf den Offizier gerichtet. Kein einziger Muskel seines Gesichts zuckte, doch in seinen Augen schimmerten kaum wahrnehmbare Anklänge von Zorn und Verzweiflung. Abyz, die hinter ihm stand, umklammerte fester den Rand ihres Schals, bemüht, ihre Besorgnis zu verbergen.

Plötzlich runzelte der Bay die Stirn und donnerte:

– Das heißt, unsere Ländereien sollen weggenommen werden? Und wer hat das entschieden?

Diese Worte brachen das Schweigen, und alle Blicke richteten sich auf den Offizier.

– Was soll es heißen? – Langsam begann der Bay die Tragweite der Situation zu begreifen. – Ihr wollt auf unserem Qystau russische Siedler ansiedeln?

– Das ist ein kaiserlicher Erlass, – murmelte der Übersetzer, – wir sind lediglich Boten.

– Das hier sind unsere Ländereien! – rief der jüngere Bruder des Bays aufgebracht und sprang von seinem Platz auf. – Wir geben sie nicht her!

– Das ist Raub! – empörte sich Onkel Azamat lautstark.

Baymuchambet hob abrupt die Hand, um seine Verwandten zur Ruhe zu bringen. Sein brennender Blick zwang sowohl den jüngeren Bruder als auch Azamat, sofort zu verstummen. Er wandte sich zum Übersetzer und sprach kalt, aber gefasst:

– Sag deinem Offizier, dass ein Gesetz gerecht sein muss. Hier leben meine Leute, und ihre Vorfahren haben diese Ländereien über Jahrhunderte hinweg beschützt.

Der Offizier forderte Isengalijew auf, ihm zu übersetzen, was die Kasachen sagten.

– Sie regen sich auf, – zuckte der Übersetzer mit den Schultern und fügte in herablassendem Ton hinzu, – ein wildes Volk, für sie hat das Gesetz keine Bedeutung.

Plötzlich erhob sich der Bay und schritt schnell auf den Übersetzer zu. Er packte ihn so heftig am Kragen, dass dessen Pincenez abrutschte und an einem an der Kleidung befestigten Bändchen hängen blieb. Mit scharfem, zischendem Ton sprach er auf reinem Russisch, direkt in die Augen des Mannes blickend:

– Wenn du noch einmal deinen dreckigen Mund aufmachst, reiße ich dir eigenhändig den Kopf ab. Kenn dein Platz, du Lakai!

Isengalijews Gesicht wurde schneeweiß. Er schrumpfte förmlich zusammen, als hätte er augenblicklich an Größe verloren. Vor Angst zitterten seine Knie, und seine Fassung schien ihn völlig verlassen zu haben. Wie hätte er ahnen können, dass der Großvater des Bay mütterlicherseits, der örtliche islamische Gelehrte Mendykulow, nicht nur als ein gebildeter Mann galt, sondern all seinen Kindern und Enkeln eine hervorragende Ausbildung verschafft hatte, darunter auch Kenntnisse der russischen Sprache?

Im Raum herrschte eine bedrückende Stille, so schwer wie dichter Nebel. Die Verwandten des Bay verharrten regungslos, wohl wissend, dass er sich am Rande des Zorns befand, aber ebenso erkennend, dass sein Ärger gerecht war. Selbst der Offizier, der die Veränderung der Atmosphäre spürte, spannte sich an. Er bemühte sich zwar, äußerlich ruhig zu wirken, beobachtete jedoch aus den Augenwinkeln jede Bewegung von Baymuchambet.

Isengalijew schlug hilflos mit den Augen, suchte nach einem Blick der Unterstützung, doch niemand im Raum zeigte ihm Mitgefühl. Der Bai ließ den Übersetzer so abrupt los, dass dieser beinahe zu Boden stürzte. Mit einem stechenden Blick und einer bitteren Ironie sagte er:

– Du denkst, sie werden dich schätzen? Dir einen Platz an ihrem Tisch anbieten? Für sie bist du nichts. Du hast dich selbst aufgegeben, um denen zu dienen, die dich verachten.

Dann wandte sich der Bay dem Offizier zu, entriss ihm den Erlass und sagte mit eisiger Ruhe:

– Eure Aufgabe ist es, den Erlass zu überbringen, unsere Aufgabe ist es, zu entscheiden, was damit geschieht. Ihr könnt eurem Vorgesetzten melden, dass Baymuchambet Schukenow, der Besitzer dieser Ländereien, sie bis zum Letzten verteidigen wird.

Der Offizier war sprachlos. Mit einer so selbstbewussten Rede auf seiner eigenen Sprache hatte er nicht gerechnet. Langsam setzte er sich wieder an den Tisch, beobachtete den Bay aufmerksam und versuchte, die Situation zu erfassen. Baymuchambet hingegen kehrte an seinen Platz zurück, setzte sich gerade hin und rief mit einer Geste Abyz, damit sie ihm erneut Tee einschenkte.

– Wir werden sehen, welches Gesetz stärker ist, – fügte er leise hinzu, sprach jedoch zu dem Offizier mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, das mehr eine Herausforderung als eine Drohung ausdrückte.

Der Offizier saß weiterhin, sichtbar verwirrt, doch seine Gedanken wanderten. Er versuchte zu ergründen, wie das alles enden würde und warum er überhaupt hierhergeschickt worden war. Eigentlich hatte er eine wichtigere Mission als die Übergabe des Erlasses: Er sollte herausfinden, ob die Einheimischen Widerstand leisten würden, und wenn ja, wie. Aber um dies zu erreichen, musste er zunächst diesen Moment überstehen, seine Sicherheit gewährleisten und einen Weg finden, ohne Verluste zurückzukehren.

„Es ist ja verständlich“, dachte der Offizier bei sich, „eine undankbare Aufgabe, den Einheimischen mitzuteilen, dass ihre angestammten Ländereien russischen Siedlern übertragen werden. Zum Glück bin ich kein Kirgise – sonst wäre ich für solche Nachrichten längst meinen Kopf los.“

In seinen Augen flackerte Müdigkeit, doch äußerlich blieb er unerschütterlich, als hätte er die Situation vollständig unter Kontrolle.

Baymuchambet begann laut des kaiserlichen Erlasses vorzulesen, der den Schukenow-Clan anwies, in die Steppen von Schubar-Kuduk umzusiedeln. Als die Worte erklangen, ertönten aus einer Ecke des Raumes erschrockene Schreie weiblicher Stimmen. Abyz, mit bleichem Gesicht, hielt sich die Hand vor den Mund und sprach auf Kasachisch Worte voller Schrecken:

– It ölgen zher! – rief sie, ihre Stimme klang panisch. Die Bedeutung dieses Ausdrucks war klar: „Ein Ort, an dem selbst die Hunde gestorben sind“, was in diesem Kontext auf eine leblose, unfruchtbare Gegend hinwies.

– Barsa kelmes! – fügte sie hinzu, was bedeutete: „Ein Ort, von dem man nicht zurückkehrt.“ Auch diese Worte trugen eine schreckliche Vorahnung – den Tod oder das spurlose Verschwinden.

Die Spannung im Raum wurde erdrückend. Ein Säugling in der Wiege, erschrocken von den beunruhigenden Lauten, wachte auf und begann zu weinen, wodurch die Dramatik des Moments noch verstärkt wurde.

– Die Sultane der Aryngaziev-Familie sind bereits in das Gebiet des Ural-Wolost ausgewandert, – fuhr der russische Offizier fort, betonte dabei die Wichtigkeit seiner Worte. –und auch euch wurde geraten, keinen Widerstand zu leisten.

Die Familie verstummte, und alle Blicke richteten sich auf den Übersetzer, der versuchte, das Gehörte verständlich zu machen.

– Und was, sie haben einfach kampflos aufgegeben? – fragte Baymuchambet mitruhiger, aber unterschwellig zorniger Stimme.

– Es sind zwei weitere Hundertschaften Orenburger Kosaken und eine Kompanie Infanteristen eingetroffen, – antwortete der Übersetzer und hob die Hände, als wisse er nicht, wie er die Situation erleichtern sollte.

– Ich habe euch doch gesagt, dass die Vermesser lügen, – sagte Onkel Azamat, der sich an die Verwandten wandte. – Von einer Eisenbahn wird hier keine Rede sein. Die Zarenbeamten haben ausgerechnet, wie viel von unserem Besitz sie beschlagnahmen können – und seht, wohin das geführt hat!

***

Der Frühling war gekommen. Der Clan der Schukenow hoffte, dass die russischen Behörden sie vergessen hatten. Wie üblich waren sie mit ihrem gesamten Vieh tief in die Steppe gezogen und hatten sich auf den Sommerweiden in der Nähe der Quellen des Flusses Usch-Karasu niedergelassen. Doch auch dort wurden sie gefunden.

An einem Maitag näherte sich von Westen her ein Kavalleriezug Kosaken ihrem Aul. Sie bekamen einen Tag Zeit, um sich zu packen. Später gewährten die Kosaken ihnen noch einen zusätzlichen Tag. Der wohlhabende Clan der Schukenow hatte viel zu sammeln. Unter der Aufsicht der Kosaken lud die Familie ihre Jurten und Haushaltsgegenstände auf große, von einhöckrigen Baktrian-Kamelen gezogene Karren mit riesigen Rädern. Außerdem trieben sie zahlreiche Schafherden, Rinder und Pferde zusammen. Nachdem sie ein Gebetsritual vollzogen hatten, setzte sich die große Karawane der Vertriebenen in breiter Formation in Bewegung.

Nach zwanzig Kilometern erreichten sie den Fluss Elek und setzten über. Anschließend stiegen sie das hohe Ufer hinauf und bogen scharf nach Süden ab. Zu ihrer Rechten blieben die Häuser ihres Winterlagers und der große Friedhof der Karassajer zurück. Die Kosaken ließen der Karawane jedoch keine Zeit, hier zu verweilen. Nur der Bay und seine Frau durften sich von den verstorbenen Vorfahren verabschieden. Baymukhambet hockte auf dem Boden und las Suren aus dem Koran, während Abyz Münzen, die in weiße Stoffstücke gewickelt waren, zwischen die Grabsteine legte.

Zwei Kosaken, die das Ritual vom Rücken ihrer gesattelten Pferde aus beobachteten, unterhielten sich:

– Was macht sie da? – fragte einer der Kosaken neugierig.– Das ist ein Brauch bei ihnen. Nennt sich Sadaqa – so etwas wie Almosen für die Bedürftigen.

– Auf einem Friedhof?

– Ja. Es ist so etwas wie Wohltätigkeit mit Würde. Selbst die Ärmsten der Kirgisen würden niemals öffentlich um Almosen betteln. Aber sie wissen, wo sie Hilfe finden können, ohne sich vor anderen schämen zu müssen.

– Wir sollten auf dem Rückweg hier eine Rast einlegen, – sagte der andere verschwörerisch und zwinkerte seinem Kameraden zu.

Nachdem er sein Gebet beendet hatte, stand Bay Schukenow auf, drehte sich zum Fluss um, streckte seine Arme auf Schulterhöhe aus und rief laut, wie einen Zauberspruch:

– Кеш менi, асыраушым, қасиетті Елегiм, айыпқа бұйырма! Мен оралам, мiндеттi түрде, оралам! Сенiн жагалауынды мыңдаған ан-құсқа толтырамын, Ант етемін!

(„Verurteile mich nicht, meine Ernährerin, mein heiliger Elek! Ich werde zurückkehren, unbedingt zurückkehren! Ich werde dein Ufer wieder mit Tausenden von Tieren füllen. Ich schwöre es!“)

Seine Worte, erfüllt von Schmerz und Hoffnung, hallten über den Fluss und verloren sich in der unendlichen Weite der Steppe. Sogar die Natur schien für einen Moment innezuhalten, um das Gelübde von Baymuchambet zu hören. Seine Frau Abyz wischte sich die Tränen aus den Augen, legte ihre Hand auf seine Schulter.

Nach der Zeremonie am Friedhof half Baymuchambet seiner Frau, auf das Kamel zu steigen, an dessen Höcker mit einem Griff die Wiege befestigt war, in der ihr vor wenigen Tagen geborener zweiter Sohn, Kadyrbek, lag. Erst danach schwang er sich selbst auf seinen Boran.

In diesem Moment näherten sich aus dem Norden zahlreiche Wagen, beladen mit Baumaterialien und Arbeitern, die der ausgetretenen Straße entlang des Flusses folgten. Mit Unmut beobachtete Baymuchambet, wie die Räder der schweren Karren tiefe Spuren in die Ufererde gruben. Er dachte: „Die trampeln hier alles nieder, das Vieh wird nichts mehr zu fressen finden.“ Sein Blick glitt über den dunklen Horizont, wo einst so viel Grün und Leben war, das jetzt allmählich von dem Land verdrängt wurde, das sein Clan über Generationen als Heimat betrachtet hatte. In seinem Inneren wuchs die Gewissheit, dass nichts Gutes dieses Land erwarten würde.

Die Landvermesser hatten allerdings nicht gelogen – hier würde tatsächlich bald eine kleine Station der Eisenbahnlinie Orenburg–Taschkent entstehen, die den Namen Akkemir tragen sollte. Und der Fluss Elek, der in der Nähe floss, würde von den russischen Beamten in ihren Dokumenten in Ilek umbenannt – so, wie sie es gehört hatten. Für sie war das nur eine weitere Formalität, aber für Baymuchambet bedeutete es weit mehr: Es war ein Symbol dafür, dass der Fluss, der einst ein lebendiges Bindeglied zwischen seinem Volk und seinen Vorfahren war, zu einem bloßen geografischen Punkt auf der Karte eines fremden Imperiums werden würde.

Nichts konnte diesen Prozess mehr aufhalten. Baymukhambet wusste das, und seine Seele war von Bitterkeit erfüllt. Der Lärm und das geschäftige Treiben der Arbeiter konnten das tiefe Gefühl des Verlustes in seinem Herzen nicht übertönen.

Baymuchambet bemerkte, dass auf einem der vorderen Wagen, der ihm bereits bekannte Übersetzer Isengalijew saß. In seinem gesprungenen Pincenez und seiner halbmilitärischen Kleidung mit den blank polierten Messingknöpfen wirkte er fast komisch. Doch in diesem Anblick lag auch etwas Beängstigendes – ein Mann, der bis vor Kurzem nur ein einfacher Assistent gewesen war, wurde nun zu einem Teil des Systems, das das Land gerechter und edler Menschen wie der Schukenow an sich riss.

Ohne den Blick des Bays zu bemerken, richtete Isengalijew demonstrativ seine Brille und beobachtete schweigend weiter das Geschehen.

***

Der Clan der Schukenow, mit ihren zahlreichen tausendköpfigen Schafherden, Rindviehherden und Pferdeherden, benötigte fast eine Woche, um die halbwüstenartige Steppe von Schubar-Kuduk zu erreichen. Dort gab es kaum kümmerliche, spärliche Büsche von bitterem Wermut, die höchstens ausgereicht hätten, um hundert anspruchslose Kamele zu ernähren. Der Boden war steinig und unnachgiebig, und obwohl dieses Gebiet einst als Teil ihres Territoriums galt, fehlte es hier an der lebenswichtigen Feuchtigkeit, die Weiden wachsen ließ, und an Quellen, die Tieren und Menschen Kraft spendeten. Als sie schließlich ihr neues Ziel erreichten, spürte die Sippe, dass der Fluss des Glücks sie diesmal im Stich lassen würde.

Schon im ersten Jahr an ihrem neuen Ort verloren sie einen Großteil seines Wohlstands – das Vieh verendete ohne Futter, und die karge Erde konnte selbst die widerstandsfähigsten Tiere nicht ernähren. Schafe, Pferde und Kühe verkümmerten und starben an Hunger und Krankheiten.

Natürlich fügten sich nicht alle Kasachen dem Umsiedlungsbefehl widerstandslos. Aus den Tiefen der endlosen Steppen, wo noch Reste von Unabhängigkeit und alten Traditionen erhalten geblieben waren, führten einige Batyre (Helden), die die Macht der Fremden ablehnten, immer wieder Überfälle auf Machthaber und Siedler durch. Diese mutigen und verzweifelten Angriffe waren eine Antwort auf den zunehmenden Druck und die Versuche, sie gewaltsam von ihrem angestammten Land zu vertreiben.

Es war nur logisch zu erwarten, dass die zaristischen Beamten, beunruhigt durch den wachsenden Widerstand, bald harte Maßnahmen ergreifen und den Kasachen das Nomadisieren verbieten würden, wodurch sie ihrer letzten Freiheit beraubt würden. Fast alle Jurten wurden ihnen genommen – die Hauptunterkunft der Hirten und Nomaden, auf der die gesamte Kultur des nomadischen Volkes basierte. Als sie nicht nur ihr Land, sondern auch ihre gewohnte Lebensweise verloren, waren die Folgen katastrophal.

Ohne Obdach und die Möglichkeit, mit den Weiden zu ziehen, sah sich der Clan der Schukenow, wie viele andere, einem schrecklichen Massensterben ausgesetzt: Das Vieh verkümmerte an Hunger und Krankheiten, und die Menschen selbst, ihrer Hoffnung beraubt, verloren Kraft und Gesundheit. Die Kette von Unglück und Zerstörung zog sich in die Länge, und nur wenige Überlebende konnten noch an eine Zukunft glauben.

Dann kam die Revolution, und vor dem Hintergrund der blutigen Stürme des Bürgerkriegs beschlossen die Ältesten der Sippe, sich nicht an den Kämpfen zu beteiligen. Nicht, weil sie die neue Sowjetmacht anerkannten oder den Zarismus für die erlittenen Qualen verschonten. Nein, der Grund war prosaischer und vielleicht tragischer: Der Clan der Schukenow, der seines früheren Reichtums und seiner Hoffnung beraubt war, hatte nichts mehr zu verlieren.

Es fehlte an Kraft für Widerstand, und auch an Mitteln, um wie viele andere Kasachen nach China zu fliehen. Dieser tausend Kilometern Marsch durch Berge und Steppen wäre ihr Ende gewesen und hätte nur Tod und Zerstörung hinterlassen. Ein Kampf lag nicht mehr in ihren Möglichkeiten.

In einer solchen Situation wählten die Ältesten den rationaleren Weg: bleiben und abwarten. Mit den Bolschewiken leben und sich anfreunden, ihre Lieder singen und alle Möglichkeiten nutzen, die die neue Macht bereit war anzubieten. Die weißbärtigen Alten, die so viel Angst und Entbehrungen durchlebt hatten, kamen zu der weisen Überlegung, dass die Kollektivierung und alles, was damit verbunden war, nichts Schlimmeres bringen würde, als das, was sie bereits durchgemacht hatten. Schließlich war die Kollektivierung weniger furchteinflößend als Zerstörung, Hunger und Krieg. Sie begannen, sich anzupassen und sich mit den neuen Bedingungen abzufinden, auch wenn sie die Ideologie nicht teilten, sie jedoch als unvermeidlich und rettend akzeptierten.

Der ehemalige wohlhabende Bay Baymuchambet Schukenow, der einst klug und vorteilhaft die Tochter eines der einflussreichsten Sultane, Amangaziyev, geheiratet hatte, besaß von all seinem früheren Reichtum nur noch eines, das für ihn unzweifelhaft heilig war – seine drei Söhne: Murat, Kadyrbek und Danda. Der jüngste wurde bereits im Exil geboren, in einer Welt, die sich stark verändert hatte und seine Familie ihrer früheren Pracht und ihres Status beraubt hatte. Die alte Welt, in der prächtige Nomadenzelte allgegenwärtig waren, endlose Herden grasten und ruhige Gespräche über Ehre und Reichtum geführt wurden, war verschwunden. Stattdessen musste sich Baymuchambet mit einer neuen Realität auseinandersetzen, in der sein Erbe nahezu ausgelöscht war und Träume von der Zukunft eine neue Gestalt brauchten.

Doch trotz aller Verluste und Prüfungen fand der Vater Trost in seinem Streben, seinen Kindern das Beste von dem zu geben, was er konnte. Er sah keinen Wert mehr in den Reichtümern dieses Landes oder in seinen Herden als Garant für Erfolg. Alles, was ihm in dieser neuen Welt blieb, war der Wunsch, seinen Söhnen ein Leben voller Wissen zu ermöglichen. Baymukhambet erkannte die Zukunft seiner Kinder nicht in den Weiden oder in den Händen von Handwerkern, sondern in der Bildung.

Er bestand darauf, dass die Jungen die russische Schule besuchten, die Sprache lernten, sich mit Literatur und all den Kenntnissen vertraut machten, die der Schlüssel zu jener Welt waren, die nun zunehmend ihr Schicksal bestimmte. Doch das war nicht genug. Sich der Bedeutung zusätzlicher Bildung bewusst, organisierte der Vater Privatunterricht, indem er zwei Lehrerinnen einlud, in seinem Haus zu wohnen. Diese Frauen waren nach der Revolution ins Dorf geschickt worden. Sie unterrichteten nicht nur seine Kinder, sondern wurden auch Teil seines Hauses. Natürlich nahm der Aksakal kein Geld für ihre Unterkunft. Er sorgte dafür, dass sich die Lehrerinnen wohlfühlten, und bewirtete sie sogar mit reichhaltigen Mahlzeiten, nach denen sie mit Freude die Lektionen fortsetzten.

So wurden nach einem guten Essen im einfachen, aber gemütlichen Haus die Lektionen für die drei Jugendlichen abgehalten. In einer Atmosphäre, in der die gewohnte Ordnung gestört und die Eigenständigkeit der Vergangenheit verschwunden war, fand Baymukhambet dennoch Wege, das Wichtigste zu bewahren – das Streben nach dem Licht des Wissens, nach einer Zukunft, die für seine Söhne neu war, aber weit mehr versprach als jeder Reichtum der Vergangenheit.

Die Zeit verging. Im Aul wurde ein Sowchos gegründet. Um die strengen Vorgaben für die Fleischproduktion zu erfüllen, begann die neue Regierung systematisch, das Vieh der Einheimischen zu beschlagnahmen und es in die Nähe des Bahnhofs von Schubar-Kuduk zu treiben. Dort, in einer stickigen, von Blut und Fleisch durchdrungenen Atmosphäre, wurde das Vieh geschlachtet, zerlegt und in Waggons verladen, um frisches Fleisch nach Moskau und Leningrad zu transportieren. Diese Politik, wie ein gnadenloser Mechanismus, durchdrang das gesamte Leben der Einheimischen, zerstörte ihre traditionelle Lebensweise und riss sie aus den Wurzeln ihrer angestammten Erde.

Für die Kinder der Kasachen jener Zeit wurde der Tod von Tieren schon früh ein unvermeidlicher Teil des Lebens, noch bevor sie laufen lernten. In jenen Haushalten, in denen es keine erwachsenen Männer gab und Fleisch ein unverzichtbarer Bestandteil der Mahlzeiten war, fanden die Frauen einen Weg. Sie nahmen die kleine Hand eines Kindes, auch wenn es noch ein Säugling war, und führten mit seinen winzigen Fingern das Messer. So schnitten sie dem Huhn die Kehle durch oder schlugen einem Lamm den Kopf ab – eine grausame, aber notwendige Praxis, um in einer Umgebung zu überleben, in der die Frage nach Menschlichkeit nicht gestellt wurde.

Auch die Brüder Schukenow blieben davon nicht verschont. Die herangewachsenen Jungen wurden, wie viele andere Jugendliche, zuerst zur Arbeit im Schlachthof in der Nähe des Bahnhofs herangezogen. Dort wurden sie Zeugen, wie ihr gesamtes Land zu einem mechanisierten Prozess wurde, in dem aus menschlichem Leid und der Angst der Tiere Nahrung für fremde Städte gemacht wurde. Die Welt ihrer Kindheit verschwand, und an ihre Stelle traten scharfe Gerüche von Blut, das Zischen von Messern und der rhythmische Takt der Zerlegung. Dies war nicht nur eine Prüfung für sie, sondern auch der Moment, in dem sie spürten, wie ein Teil ihres Landes und ihrer Kultur von der Gier nach Handel und Macht verschlungen wurde.

Mit ihrem Handwerk gingen sie meisterhaft um, als wären sie mit diesem Talent geboren. Jeder präzise, scharfe Hieb des Messers oder Beils war bis zur Perfektion ausgefeilt, und trotz ihrer Jugend machten die Brüder Schukenow keine Fehler in ihren Bewegungen. Doch in ihrer Arbeit lag etwas Verzweifeltes, Auswegloses. Ein tiefes Verständnis dafür, dass ihre Bemühungen vergeblich waren, dass alles, was sie taten, zunichtegemacht würde, ließ ein unheilvolles Gefühl in ihren Herzen aufsteigen. Sie waren lediglich kleine Zahnräder in einer riesigen Maschine, die sich nicht für ihr Schicksal interessierte.

– Diese Städter sind ja völlig kopflos! – sagte Danda mit einem ärgerlichen Blick auf die helle Frühlingssonne, während er auf den Güterwagen schaute, in dem sie arbeiteten. – So werden sie das Fleisch niemals bis in die Hauptstadt bringen. Höchstens ein Zug voller Würmer wird ankommen.

Auf dem blutgetränkten Boden des Güterwagens rutschend, luden er und seine Brüder frische Rindfleischhälften auf, bemühten sich jedoch, diese mit trockenem Stroh zu bedecken, um die Frische wenigstens ein wenig zu bewahren. Doch seine Gereiztheit ließ nicht nach.

– Sogar unsere Kinder wissen, dass Fleisch ohne Verarbeitung innerhalb eines Tages verderben kann, – schimpfte er, wohl wissend, dass das Fleisch trotz aller Bemühungen auf eine Reise geschickt wurde, die es unweigerlich verderben würde.

Murat, der Älteste der Brüder, packte das Beil fest und reichte es dem jüngeren Bruder, ohne auf dessen wütende Stimme zu achten.

– Hack einfach! – befahl er scharf. – Und halt den Mund! Unsere Aufgabe ist hier klein. Wir machen hier nur unsere Arbeit.

Danda ergriff wütend das Beil und überlegte für einen Moment die Worte seines Bruders. Doch dann fuhr er mit seinem Protest fort:

– Aber ich werde nicht schweigen! – brüllte der 23-Jährige, als ob er das Gewicht all seiner Gedanken auf seine Brüder abwälzen wollte. – Das ist doch reines Sabotieren! Ich werde es dem Vorgesetzten erklären.

Seine Stimme hallte durch den Wagen, doch keiner der Arbeiter schenkte seiner Wut Beachtung. Sie alle wussten, wie auch er, dass jeder Versuch, diesen Wahnsinn Prozess zu ändern, sinnlos sein würde. Das Leben schien aufgehört zu haben, etwas Verständliches oder Sinnvolles zu sein.

Er rammte das Beil zwischen die Rippen einer Rinderhälfte und stürzte ohne zu zögern Richtung Verwaltungsgebäude. Mit jedem Schritt schlug sein Herz schneller – ein brennendes Verlangen in seiner Brust, die Wahrheit jenen zu überbringen, die sich anscheinend überhaupt nicht um das kümmerten, was tatsächlich geschah.

–Wer ist hier der Verantwortliche? – fragte er entschlossen, als er in einen kleinen Raum am Bahnhof eintrat, in dem der graue Alltag nach verbrannten Papieren und altem Tabak roch.

Hinter einem Schreibtisch saß ein gebeugter älterer Mann, der völlig in seine Arbeit vertieft war und nur mühsam den Blick von einem Stapel Papier hob.

–Was willst du? – murmelte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, als wäre das die alltäglichste Beschäftigung in seinem Leben.

Danda verlor keine Zeit und kam gleich zur Sache:

– Es geht um Folgendes. Wir verladen Fleisch, aber das wird doch Moskau nie erreichen…

– Es wird verderben, – fügte er mit einem leichten Anflug von Ärger hinzu.

– Was, bist du der Klügste hier? – entgegnete die Stimme, diesmal mit einem Hauch von Unmut.

– Ich bin jedenfalls kein Dummkopf! Ich habe die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen. Wir sind Viehzüchter. Unsere Familie hatte früher tausendköpfige Herden. Wenn das Fleisch jetzt nicht verarbeitet wird, kommen nur Würmer in Moskau an, – erklärte Danda nachdrücklich, während sein Zorn über solch eine Gleichgültigkeit in ihm aufkochte.

Doch der Alte winkte nur ab, ohne zuzuhören:

– Na gut, verschwinde von hier, – sagte er mit einer abschätzigen Geste, – stör mich nicht bei der Arbeit.

Doch plötzlich erklang eine unbekannte Stimme, die Danda innehalten ließ.

– Warte mal, warte mal, – hörte er, und als er sich umdrehte, sah er einen hochgewachsenen, hageren Mann in einer schwarzen Lederjacke mit einem großen roten Stern auf der Budjonowka. Sein selbstbewusster Gang und entschlossener Blick signalisierten, dass er eine Person mit Macht war.

– Genosse Kommissar, – erhob sich der ältere Mitarbeiter hinter dem Tisch, – er ist doch noch ein Grünschnabel, um uns Vorschriften zu machen.

Der Kommissar beachtete die Worte des Alten nicht und trat zu Danda.

– Setz dich, – befahl er mit einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, während er einen Hocker an den Tisch schob und den jungen Mann mit einer Geste aufforderte, seine Sichtweise darzulegen.

Danda spürte einen Hoffnungsschimmer – endlich würde man ihn anhören. Er setzte sich auf den Hocker, zog sich zusammen und sammelte seine Gedanken, bevor er alles erzählte, was er darüber wusste, wie man Fleisch in der warmen Jahreszeit konserviert, damit es nicht verdirbt.

– Man könnte es großzügig mit Salz bestreuen, oder – falls kein Salz vorhanden ist – das Blut ablassen und das Fleisch anschließend im starken Wind und unter der heißen Sonne trocknen, um es zu dörren.

– Aber soweit ich weiß, haben wir nicht genügend Salz in diesen Mengen, und Zeit für das Trocknen der vielen Fleischmassen haben wir auch nicht, – sagte Danda entschlossen.

Er blickte dem Kommissar direkt in die Augen und fügte dann hinzu, als hätte er für sich selbst eine Entscheidung getroffen:

– Es bleibt nur eine Möglichkeit – das Vieh lebend zu transportieren. Futter und Wasser können in begrenzten Mengen gleich in die Waggons geladen oder unterwegs beschafft werden.

Der Kommissar dachte über seine Worte nach. Schweigend nickte er und erkannte, dass eine schwierige Entscheidung bevorstand, doch dieser junge Mann mit seinem Engagement und seinem Wissen hatte recht.

Es war unwahrscheinlich, dass seine Worte bis zur lokalen Führungsebene vordrangen. Doch offenbar erkannten auch die Lieferanten bald ihren Fehler. Als die Fleischtransporte bereits unterwegs ihren Wert verloren und es mehrfach zu verdorbenen Lieferungen kam, wurde schließlich die vernünftige Entscheidung getroffen: Das Vieh lebend zu transportieren. Dieses Mal war allen klar, dass es keinen anderen Weg gab. Nicht nur das Fleisch war zu kostbar, sondern auch der Ruf der gesamten Operation.

Bald begleitete Danda, wie er es vorhergesagt hatte, diese Transporte. Er übernahm die schwere und undankbare Arbeit eines Wachmanns, Fütterers und Versorgers des Viehs, um das Viehbestand während der Reise vor Verlust zu bewahren. Er trug nicht nur die Verantwortung für diese Aufgabe, sondern auch die endlose Last der Erschöpfung und setzte seinen Dienst fort, für den ihm allerdings kaum jemand dankte.

– Selbst schuld, – dachte er, – niemand hat mich gezwungen, für die richtige Sache einzusetzen.

Aber jetzt war seine Aufgabe klar, und er erfüllte sie, so gut er konnte.

Wie schwer das für ihn war, wusste er selbst. Manchmal, wenn er in dunklen Nächten an stillen Bahnhöfen hielt, spürte Danda, wie sein Körper nicht mehr weitergehen wollte, und seine müden Augen keine Horizonte mehr sehen konnten. Doch sein Wille und sein Verständnis dafür, dass solche Bemühungen nötig waren, um eine Katastrophe zu verhindern, trieben ihn voran.

Die beiden anderen Brüder der Schukenow blieben ohne Arbeit.

Kadyrbek, ein Mensch mit starkem Charakter und Sinn für Veränderung, wollte nicht in das menschenleere Dorf zurückkehren.

– Ich bleibe hier, – entschied er, fasziniert vom Rhythmus und der Dynamik des Alltags auf einem kleinen Bahnknotenpunkt, wo das Leben lebendiger und facettenreicher erschien als in der abgelegenen Steppe.

Schritt für Schritt entschied er sich, sein Schicksal mit der Eisenbahn zu verbinden. Er schrieb sich an der Orenburger Fabrikschule ein und wählte den Beruf des Eisenbahnmechanikers. Dies war ein völlig neues Kapitel in seinem Leben, voller Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung. Der Weg des Eisenbahners wurde für ihn zu einer echten Herausforderung, doch Kadyrbek war bereit, jede Entscheidung zu treffen, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Murat hingegen, ein Mensch mit einem bodenständigeren Blick auf das Leben, kehrte in sein Elternhaus zurück.

– Ich kann mir keine andere Zukunft vorstellen, – sagte er, – außer der, die unsere Familie seit Jahrhunderten lebt – hier im Aul, auf unserem Land.

Er verneigte sich vor den Traditionen und respektierte diejenigen, die auf ihrer Heimat geblieben waren. Murad blieb den familiären Werten und der Arbeit auf dem Land treu, dem Land, dem sein Herz immer gehören würde.

***

Die Zeitungsseiten jener Zeit waren voller freudiger Nachrichten über die Siege der Sowjetunion gegen Finnland. Doch für den letzten Bay des Geschlechts der Schukenow schien die Welt nicht mehr zu existieren. In ihm wurde alles allmählich still, wie ein Sonnenuntergang über der Steppe. Er fühlte, dass die Zeit gekommen war, sich zu verabschieden, und versammelte seine engsten Verwandten und Hausangehörigen um sich, um die letzten Tage in den Kreisen derer zu verbringen, die er liebte und respektierte.

Baymuchambet ließ seine Jurte im Hof aufstellen und darin weiche Kurpesschke – kasachische Teppiche, ein Symbol für Gemütlichkeit und Ruhe – auslegen. Dieser Moment war etwas Besonderes: Der Lebenskreis schloss sich, wie bei jedem echten Kasachen, dessen Leben immer im rechten Teil der Jurte begann, wo sich die Wiege des Kindes befand, und dort auch enden sollte, umgeben von den Nahestehenden auf dem eigenen Land.

In der Jurte stand ein hölzernes Atagasch – ein Gestell, auf dem der Verstorbene auf seiner letzten Reise getragen wird. Dieses wird oft auch als „Wiege“ bezeichnet. Von der Kinderwiege bis zur letzten Ruhestätte – dieser unvermeidliche Kreislauf des Lebens. Wie ein kasachisches Sprichwort sagt: „Тал бесіктен жер бесікке“ – von der Holzwiege bis zur Erdwiegе. Dieser harte Lebenszyklus, in dem Geburt und Tod untrennbar miteinander verbunden sind, war über Jahrhunderte hinweg ein wesentlicher Bestandteil der kasachischen Philosophie und Weltsicht.

Am nächsten beim Kopfende seines Vaters saß Murat, der älteste Sohn, mit untergeschlagenen Beinen, wie es der traditionellen kasachischen Sitzweise entspricht. Die Bildung, die Baymuchambet seinen Kindern ermöglicht hatte, war keine vergebliche Mühe. Murat war eine angesehene Persönlichkeit in seiner Gemeinde geworden, der Vorsitzende des Dorfrates, und nun stand er an der Schwelle zu einem neuen Leben, das er mit festem Glauben an die Zukunft aufbaute. Sein Blick war ruhig, doch in der Tiefe seiner Augen lag eine Traurigkeit, die er zu verbergen suchte.

Hinter ihm stand seine Frau, Dschamilja, eine zärtliche und treue Gefährtin. Sie war eine liebevolle Frau, doch ihr Gesicht war jetzt von einer unvermeidlichen Traurigkeit gezeichnet, die schwer zu verbergen war. Diese Traurigkeit hatte nichts mit dem Tod ihres Schwiegervaters zu tun. Sie war tiefer und persönlicher, eine, von der nur wenige wussten, die aber Teil ihres Lebens war, seit ihr Sohn Sarken geboren wurde. Der Junge hatte ein kürzeres Bein, und dieses Unglück des Schicksals nagte an ihrer Seele.

Dschamilja bemühte sich, ihren Schmerz nicht zu zeigen, doch die schwere Bürde einer Mutter, deren Kind mit einer Schwierigkeit kämpft, konnte sie nicht unberührt lassen.

In ihrem Herzen brannte stets ein aufrichtiges Gebet: „Möge Allah mir die Kraft geben, dieses Leid würdevoll anzunehmen, meinen Sohn mit Liebe zu erziehen und seinen Schmerz durchs Leben zu tragen.“ Diese unausgesprochenen Worte, verborgen hinter ihrem Blick und ihren Gesten, waren für sie eine Quelle innerer Stärke, Hoffnung und Liebe, trotz des Schattens, der immer über ihrem Glück lag…

– Weißt du, Kadyrbek, – wandte sich Baymuchambet mit rauer Stimme an seinen mittleren Sohn, – du hattest wahrscheinlich mehr Glück als alle anderen. Durch den Willen des Allmächtigen bist du der Einzige aus unserem großen Stamm der Tabyn, der in die Heimat seiner Vorfahren am Ufer des Flusses Elek zurückkehren konnte.

– Ake, – antwortete dem Vater sein Sohn Kadyrbek zurückhaltend, spürend, dass in den Worten seines Vaters nicht nur Bitterkeit, sondern auch ein Hauch von Ironie lag, mit der der alte Mann die neue Realität betrachtete, – er heißt jetzt Ilek.

Kadyrbek war ein diplomierter Meister für Eisenbahnstrecken. Nach seinem Abschluss wurde er zur Arbeit an die Station Akkemir geschickt, die einst Teil des Familienbesitzes ihrer Vorfahren vor den Reformen Stolypins war. Dieser Ort wurde für ihn zum Symbol der Rückkehr, wenn auch unter einem neuen Namen, in die Heimat.

Baymuchambet nickte schweigend, bemüht, die Welle der Dankbarkeit zu unterdrücken, die in ihm aufstieg. In seinen Gedanken tauchten Worte des Dankes an die Himmel auf, dass wenigstens einer seiner Söhne auf dieses Heilige Land zurückkehren konnte. Die Steppe, der Fluss, die vertrauten Horizonte – all das war wieder ein Teil ihres Lebens geworden.

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