Zu uns wandte sich die Abgrundshöhe,
und Gottes Licht erlischt…
Wir wurden in jener Heimat geboren,
die es nicht mehr gibt.
– Boris Tschitschibabin
Über Jahrhunderte hinweg zog Russland europäische Siedler an. Unter dem Schutz der großen Fürsten strömten Menschen herbei, die ein besseres Leben suchten. Darunter waren viele Deutsche, die von Armut, Landlosigkeit und religiöser Verfolgung aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Der größte Zustrom von Migranten fand in der Ära Katharinas der Großen statt. Ihr Manifest öffnete die Türen zu einem neuen Leben: Den Siedlern wurden Privilegien, Glaubensfreiheit, Selbstverwaltung und Befreiung vom Militärdienst versprochen.
Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich alles. Die russisch-deutschen Beziehungen kühlten ab, und die Emigration kam fast zum Erliegen. Die Behörden führten strenge Maßnahmen ein: Zwangsenteignungen von Land, Aufhebung früherer Privilegien und Einführung der Wehrpflicht. Enttäuscht verließen viele Russlanddeutsche das Land und wanderten nicht nur nach Deutschland, sondern auch nach Amerika aus, wo neue Hoffnung auf sie wartete.
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs änderte sich das Schicksal des deutschen Volkes in Russland endgültig. Die Deutschen wurden ihrer rechtlichen Sicherheit beraubt, Schulen und Zeitungen wurden geschlossen, und viele wurden aus den Frontgebieten ausgewiesen. Eine Welle von Pogromen erfasste die Städte, und deutsche Unternehmen und Betriebe in Moskau wurden mit einem Federstrich geschlossen. Die Regierung plante die Massenumsiedlung der Wolgadeutschen nach Sibirien, doch die Revolution von 1917 unterbrach diesen Prozess.
Die Bolschewiki erklärten die Freiheit der Völker, und auf der Landkarte des Landes erschien die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Doch die Jahre relativer Ruhe wurden bald von einer neuen Tragödie abgelöst. Der Zweite Weltkrieg brachte unvorstellbare Grausamkeiten: Das stalinistische Regime beschuldigte das gesamte deutsche Volk des Verrats. Es begannen Massenvertreibungen nach Sibirien und Kasachstan, und per Gesetz wurde die Rückkehr in die angestammten Gebiete verboten.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion fand sich das deutsche Volk über die ehemaligen Republiken verstreut. Für die meisten war die einzige Lösung die Auswanderung nach Deutschland, wo sie ihr Leben von Grund auf neu aufbauen mussten.
Dies ist die Geschichte eines Volkes, das Jahrhunderte voller Prüfungen überlebt hat, dabei aber seinen Geist und den Traum von einer Heimat bewahren konnte…
Teil I. Fremde