Amalia. Ein Schrei über der Wolga

Der Geburtstag von Amalia fiel auf einen heißen Montag, den 19. September 1910 – eine Tatsache, die ihre Mutter ihr Leben lang gerne erinnerte.

Am Vorabend, trotz des Verbots ihrer strengen katholischen Mutter Anna-Rosa, ging Maria-Magdalena mit ihrer Schwiegermutter zum Gottesdienst in die lutherische Kirche im Wolgadorf der deutschen Siedler Müller. Der Pastor überzeugte die schwangere Frau, dass es nicht nur erlaubt, sondern notwendig sei, den Tempel Gottes zu besuchen, um dem Allmächtigen für das Geschenk neuen Lebens zu danken, dessen Herz unter ihrem Herzen schlug.

Und am nächsten Morgen, zu Beginn der Arbeitswoche, gebar Maria-Magdalena. Es schien symbolisch, dass die Neugeborene Amalia genannt wurde – schließlich bedeutet dieser altgermanische Name „die Fleißige“. Doch die Geschichte des Namens war viel komplexer.

Die Großmutter, Anna-Rosa, bestand darauf, dass das Mädchen den katholischen Namen Amalia trug. Ihr Schwiegersohn Georg, ein überzeugter Lutheraner, stritt nicht dagegen. Er war überzeugt, dass der Name gemäß dem kirchlichen Heiligenkalender und den Patronen gewählt worden war. „Nun, der Name ist gut“, dachte er, und die Frage war damit erledigt.

Doch Anna-Rosa sah in diesem Namen mehr. Fast zwei Jahrzehnten später, auf ihrem Sterbebett, gestand sie ihrer Enkelin ein Geheimnis. Ein Priester der katholischen Kirche hatte ihr einmal eine andere, lateinische Bedeutung des Namens Amalia verraten – „würdiger Gegner“.

Anna-Rosa konnte ihrer Tochter Maria-Magdalena weder die Heirat mit dem Lutheraner Georg Leis noch ihren Abfall vom katholischen Glauben verzeihen. Doch sie sah in Amalia eine Chance, alles zu korrigieren. Die Erziehung ihrer Enkelin im katholischen Geist wurde für sie zu einer persönlichen Mission. Dafür, nach dem Tod ihres Mannes, zog sie in das Haus ihres Schwiegersohnes, des Lutheraner, in der Hoffnung, dass die Zeit und ihre Bemühungen ihre Wirkung zeigen würden.

Georgs Mutter, Emma, ahnte vielleicht von den Plänen ihrer Schwiegertochter, die diese nicht einmal verbarg, doch sie nahm sie nicht ernst. Der Prediger der lutherischen Kirche versicherte, dass gemäß den Dogmen ein Katholik ein Evangelist (so nennt man offiziell die lutherischen Protestanten) werden konnte, aber die Umkehr war unmöglich. Daher nahm Emma es völlig ruhig hin, dass ihr Sohn eine Katholikin heiratete.

Außerdem hatte Emma, ohne es zu merken, ziemlich liberale Ansichten, ohne überhaupt zu wissen, was dieses Wort bedeutete. Lange vor der Hochzeit ihres geliebten Sohnes erklärte sie öffentlich, dass sie jede Schwiegertochter, unabhängig von Herkunft und Glauben, akzeptieren würde: „– Auch wenn es eine Frau aus den kirgisischen Steppen oder aus dem fernen Japan ist. Hauptsache, sie macht Georg glücklich.“

Noch dazu war Emma bereit, sich sogar mit der schlimmsten, ihrer Meinung nach, Variante abzufinden – falls ihr Sohn eine Russin heiraten würde.

– Hoch sei Gott bewahrt!, – betete sie, als sie sich so etwas nur vorstellte. Denn in diesem Fall müsste Georg nicht nur das Elternhaus verlassen, sondern auch aus dem deutschen Dorf fortziehen.

Die Zaren-Gesetze für die Umsiedler waren streng: Die Kolonisten schworen, diese zu befolgen, sobald sie russisches Land betraten. Eines dieser Gesetze verbot es, Orthodoxe zu einer anderen Religion zu bekehren, unter Androhung harter Strafen. Muslime zum Christentum zu bekehren war hingegen erlaubt, aber Orthodoxe – auf keinen Fall.

Emma hatte noch nie von gemischten russisch-deutschen Ehen gehört, auch ihre Eltern nicht. Doch sie ahnte, dass Georg, wenn er eine Russin heiraten würde, zur Orthodoxie übertreten müsste. In jener Zeit war es unvorstellbar, mit einer russischen Frau verheiratet zu sein und gleichzeitig Lutheraner zu bleiben: Eine Trauung und Taufe der Kinder war nur unter der Voraussetzung erlaubt, dass beide Eheleute denselben Glauben und ihre Familien teilten.

Ehrlich gesagt, seufzte Emma mit Erleichterung, als Georg lediglich eine Katholikin in das Haus brachte. Zumal Maria-Magdalena selbst den Wunsch äußerte, zum lutherischen Glauben überzutreten. Und als sich herausstellte, dass sie zudem eine freundliche, fleißige und reinliche Schwiegertochter war, war Emma endgültig überzeugt: Der Glaube war nicht das Wichtigste. Er sollte den Menschen helfen zu leben und zu lieben, nicht Hindernisse auf ihrem Weg zu errichten.

Amalias Großvater, Johann Leis, war ein Mann von seltener Fertigkeit: Bauer, Zimmermann, Maurer, und im Alter hatte er sich auch noch dem Weinbau zugewandt. Er entwarf und baute das Haus, in dem später Amalia geboren wurde. Es war ein solides, vierzimmeriges Haus, das aus grobem Naturstein gebaut und mit einem Holzdach bedeckt war.

Hinter dem Haus standen ein großer Scheunenschuppen und ein geräumiger Stall für das Vieh. Der Garten des Hausherrn erstreckte sich bis zum Fluss, hundert Meter weit, gespickt mit unzähligen Beeten und einigen Apfelbäumen. Direkt am Ufer, an einem steilen Hang, hatte Johann in seiner besten Zeit ein geräumiges Kellergewölbe gegraben.

Dieses Kellergewölbe war ein wahres Meisterwerk, unterteilt in drei Teile. Der erste war ein Eiskeller, in dem das ganze Jahr über schwere Eismengen aufbewahrt wurden, die im Winter am Fluss geschlagen wurden. Der zweite war ein Vorratsraum für Gemüse. Der dritte war ein kleiner, gewölbter Raum, ebenfalls aus dem gleichen Naturstein gemauert. Hier, wie Johann selbst sagte, reifte sein Selbstgebrannter.

Johann wurde nicht nur von den Nachbarn und Kolonisten beneidet. Russischen Bauern aus den umliegenden Dörfern kamen extra, um sich seine Kunstfertigkeit anzusehen und von ihm zu lernen. Seine Bauten, ob Haus oder Keller, wurden zu einem Symbol für die Arbeitsamkeit und Einfallsreichtum des echten deutschen Handwerkers.

Die Familie Leis war groß und einig. Nach Amalia kamen noch fünf Töchter zur Welt: Maria, Emilia, Renata, Rosa und Anna. Neun Frauen und ein Mann. Ein Leben wie im Paradies! Durch die vielen Frauen herrschte im Hause Leis stets Sauberkeit und Ordnung. Jeder Hausbewohner war gut genährt, bekleidet und gepflegt.

Der Keller und der Dachboden quollen über vor Vorräten: Fleisch, Speck und geräucherte Wurst, getrockneter Fisch, Schweine- und Butterfett, Marmelade und eingelegtes Gemüse, getrocknete Früchte, Beeren und Pilze – alles war mit Liebe und Sorgfalt aufbewahrt. In den Truhen lagen ordentlich aufgerollte Fäden und unzählige Stoffbahnen, die eine ganze Generation einkleiden könnten.

Die Arbeit auf dem Feld – Pflügen, Säen und Ernten – fiel fast vollständig auf Georgs Schultern. Er meisterte dies tapfer, obwohl ihm von Zeit zu Zeit die Frauen halfen. In seinem Scheunenschuppen war es nie leer: Die Vorratskammern waren bis zum Rand mit Getreide, Mehl, Bohnen und Mais gefüllt.

Gedanken darüber, noch ein weiteres Kind zu bekommen, beschäftigten Georg jedoch mit Sorge. Er fühlte, dass er bereits eine große Verantwortung trug. Daher war er eher verwirrt als froh, als er erfuhr, dass Maria-Magdalena wieder schwanger war.

Doch Gott bescherte Georg diesmal das, wovon er vielleicht geträumt, aber nie zu hoffen gewagt hatte: einen lang ersehnten Sohn. Der Junge wurde Martin genannt.

– Kinder sind keine Kartoffeln, die wachsen auch im Winter, – sagte der nun stolze Vater und blickte voller Freude auf das Neugeborene. Georg wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sein Sohn heranwachsen, ihm zur Seite stehen und das Erbe weiterführen würde.

Amalia erinnert sich gut daran, wie sie zusammen mit ihren Großmüttern das alte Wiegenbett für ihren neugeborenen Bruder vorbereiteten. Obwohl, was heißt vorbereiten? Sie wischten einfach das Wiegenbett ab und legten frisch gewaschene Windeln hinein. Diese Wiege hatte kaum Zeit, Staub anzusetzen oder auszutrocknen – Kinder kamen in der Familie alle anderthalb bis zwei Jahre zur Welt.

Großmutter Emma erzählte ständig die Geschichte der Wiege. Ihr Urgroßvater, der sich nach der Umsiedlung aus Sachsen an den Ufern der Wolga niedergelassen hatte, schnitzte diese Wiege aus robustem Eichenholz. Seitdem diente sie den neuen Generationen ihrer Familie ununterbrochen über anderthalb Jahrhunderte hinweg.

Amalia kannte die Wiege bis ins kleinste Detail. An den Seiten waren kunstvolle Bäumchen, majestätische Vögel und azurblaue Blumen geschnitzt. Am Kopfende strahlte eine leuchtend rote Sonne, und am Fußende ein Halbmond, umgeben von Sternen. Auf jeder Wand prangten geschnitzte Engelchen, die den Schlaf des Babys zu bewachen schienen.

– Ein Kreuz fehlt an der Wiege, – klagte Großmutter Anna-Rosa gewohnt. – Bei uns Katholiken schnitzt man auf jeder Wiege ein Kreuz, damit Gott das Kind beschützt.

– Hört nicht auf sie, – mischte sich Großmutter Emma sanft ein und wandte sich an ihre Enkelinnen. – Man soll nicht das verehren, worauf der Herr gekreuzigt wurde.

Emma erinnerte sich an die kürzliche Predigt des Pfarrers während des Gottesdienstes:

– Das zweite Gebot auf den Tafeln des göttlichen Zeugnisses lautet: ‚Du sollst dir kein Bildnis machen.‘ Und das ist wichtiger als ‚Du sollst nicht töten‘, ‚Du sollst nicht ehebrechen‘ oder ‚Du sollst nicht stehlen‘. Leider ist die Geschichte der Religionen voll von Beispielen, wo Lehren mit Aberglaube vertauscht wurden. Ein Lutheraner braucht kein Bildnis oder Kreuz. Er weiß, dass der Herr im Himmel ist, und es genügt, nach oben zu blicken, um direkt mit ihm zu sprechen.

Emma hätte ihrer Schwiegermutter diese Worte gerne erzählt, doch Anna-Rosa wollte nicht zuhören. Sie zog eine Flasche Weihwasser aus ihrer Tasche und besprengte das Wiegenbett reichlich.

Anna-Rosa war in strengen katholischen Traditionen erzogen worden und hatte offensichtlich nicht die Absicht, ihre Überzeugungen im Alter zu ändern.

Manchmal, ohne es zu merken, legte Großmutter Emma ein nasses Windelchen zum Trocknen auf die Rückenlehne der Wiege.

– Willst du, dass unser Enkel Schlaflosigkeit bekommt? – rief Anna-Rosa, als sie das Windelchen nahm. Hastig machte sie das Kreuz über der Wiege und fügte hinzu: – Das ist ein schlechtes Omen!

Der mütterliche Instinkt schien den Mädchen in die Wiege gelegt worden zu sein. Schon von klein auf spielten sie mit Puppen, wickelten sie, fütterten und schaukelten sie. Es war kein Wunder, dass die alte Wiege, die in der Ecke des Zimmers stand, sie wie ein Magnet anzog. Jede von ihnen hatte regelrecht das Bedürfnis, sie zu schaukeln.

– Oh mein Gott! – erschauerte Anna-Rosa, rieb sich die Hände wie bei der Apokalypse. – Man darf die leere Wiege nicht schaukeln! Wollt ihr etwa, dass euer Bruder schwer krank wird?

Nachdem es den Kindern gelungen war, sich zu entfernen, segnete die Großmutter erneut die Wiege, flüsterte Gebete und blickte weiterhin misstrauisch darauf.

Emma, die bis zu diesem Moment geschwiegen hatte, konnte schließlich nicht mehr an sich halten. Sie trat zu ihrer Schwiegermutter, legte die Hände auf die Brust und sagte leise, aber bestimmt:

– Du musst entweder an Gott glauben oder dich bei den Wahrsagerinnen eintragen.

Anna-Rosa erstarrte. Vielleicht hatte sie sich durch Emmas Worte getroffen gefühlt, oder sie versuchte eine würdige Antwort zu finden, aber sie sagte nichts. Sie drehte sich um und wandte sich wieder an die Enkelinnen:

– Und merkt euch: Setzt euch niemals selbst in die Wiege!

Die Mädchen fragten nicht einmal „Warum“. Jede von ihnen stellte sich sofort die schrecklichen Unglücke vor, die zwangsläufig über sie hereinbrechen würden, wenn sie widersprechen würden. Die düsteren Warnungen von Anna-Rosa verliehen ihren Worten fast magische Kraft, und niemand wagte es, sie zu widerlegen.

Das Jahr 1921 wurde für viele das Ende der Welt, das Großmutter Anna-Rosa ihr Leben lang vorhergesagt hatte. Auch wenn die Erde und das Universum nicht ins Nichts verschwanden, lag doch etwas Gerichtliches, Unheilvolles in der Luft. Niemand in der Umgebung erinnerte sich an eine Ernte, die kleiner war als das Saatgut.

Und als ob das Unglück nicht genug wäre, traf eine neue Katastrophe die Bauern – die Lebensmittelabgaben. Die Bolschewiki stürmten in jedes Haus von Kriwzowka und nahmen unbarmherzig das Letzte der Menschen – Lebensmittel für die hungernden Städte. Die Familie Leis blieb nicht verschont: Sie räumten die Scheune bis zum letzten Korn aus und nahmen das gesamte Vieh mit.

Maria-Magdalena, zitternd vor Verzweiflung, ging den ungebetenen Gästen entgegen. In ihren Händen hielt sie den in Windeln gewickelten jüngsten Sohn, Martin.

– Was seid ihr für Unmenschen! – rief sie auf Russisch und fiel auf die Knie. – Womit soll ich sieben Kinder ernähren?

Die Bolschewiki, streng und schweigsam, blickten sich an. Schließlich hatten sie Mitleid: Sie ließen der Familie einen Sack Mehl und ein kleines Zicklein für Aufzucht zurück – damit die Kinder nicht ohne Milch blieben. Bevor sie gingen, warf einer von ihnen böse über die Schulter:

– Gefällt es euch nicht? Dann fahrt doch in euren Deutschland!

Aber auch diese Krümel waren nur eine vorübergehende Rettung. Das Mehl war schnell aufgebraucht, und das Zicklein entpuppte sich als Bock. Von ihm war keine Milch zu erwarten. Georg traf eine schwere Entscheidung – er musste das Tier schlachten. Das Fleisch war kaum mehr als das einer Katze, aber es blieb keine andere Wahl.

Nun ging Georg immer häufiger auf Jagd und Fischfang, in der Hoffnung, wenigstens etwas Essbares zu finden. Die Großmütter, warm eingepackt, schleppten aus dem Wald alles, was man auf den Tisch bringen konnte: Wurzeln, Beeren, sogar Baumrinde. Sie kochten einen Sud daraus, mit dem sie die Familienmitglieder versorgten. Natürlich konnte das niemanden satt machen, aber es dämpfte für eine Weile das Hungergefühl.

Im Haus wurde es stiller. Sogar die Kinder, die immer laut und ausgelassen waren, saßen jetzt schweigend, als wollten sie keine Kräfte verschwenden.

Doch Unglück kommt nie allein. Durch den Stress, die Angst und die unzureichende Ernährung ging Maria-Magdalena die Milch verloren. Der jüngste Sohn, Martin, schrie erbärmlich vor Hunger, und sein Gesicht wurde vom Anstrengung blau. Großmutter Emma, die ihren alten Gewohnheiten treu blieb, versuchte die Schwiegertochter zu überreden, den Säugling weiter an die Brust zu legen. Aber so sehr das Baby sich auch anstrengte, die Brust blieb leer. Es war offensichtlich, dass er verhungerte.

Früher trockneten die Windeln im Haus nie, sie wurden mehrmals am Tag gewechselt. Jetzt wuschen sie sie nicht mehr so oft, und der Windelwechsel erfolgte nur alle zwei Tage.

Anna-Rosa versuchte es auf ihre Weise: Sie kochte Kräutertees für Maria-Magdalena, die sie nach ihren eigenen Rezepten gesammelt hatte. Aber auch das brachte keinen Erfolg.

Vater Georg war erschöpft von seinen Suchen. Er hatte alle umliegenden Dörfer abgeklappert, in der Hoffnung, wenigstens etwas Kuhmilch für seinen sterbenden Sohn zu finden. Doch die Kühe waren längst von den Bolschewiken weggenommen worden. Schließlich hatte er in einer kalmückischen Familie, die sieben Meilen von Kriwzowka entfernt lebte, Glück. Sie hatten noch Stutenmilch – das einzige, was nach der Lebensmittelabgabe übrig geblieben war, weil das trächtige Pferd kaum noch laufen konnte. Es hatte ein Fohlen bekommen und gerettet die Familie.

Nun ging Amalia meistens für diese Milch. Jedes Mal musste sie den langen Weg zurücklegen – sieben Meilen in eine Richtung. Die Kalmyken nahmen keine Bezahlung in Geld, das nicht vorhanden war, sondern tauschten. Manchmal gaben sie selbst an, was zu bringen war: gesponnene Wolle, Kleidung, Werkzeuge. Für einen Krug Milch gab es einen Hammer, eine Gabel, eine Schaufel oder Mamas Perlen.

Die Milch wurde in einer dunkelbraunen Flasche aufbewahrt, die aus einer Wodkaflasche gemacht war und im Dorf „Solowejkowska Kirche“ genannt wurde. Um Martin zu füttern, stoppte Maria-Magdalena ein Stück Stoff von der sarpinkowischen Gewebe in den Flaschenhals. Durch diese selbstgemachte Nuckelflasche trank das Kind die Milch.

Emma versuchte, den hungrigen Säugling zwischen den Fütterungen irgendwie zu beruhigen. Sie wickelte eine Prise Beeren, getrocknet oder frisch, in ein Tuch oder ein Stück Stopfstoff und machte „Süßknoten“. Martin lutschte darauf, während seine Mutter die nächste Portion Milch zubereitete.

Anna-Rosa hingegen streifte über den sandigen Waldrand und sammelte Süßholzwurzeln, die sie „Süßholzwurzel“ nannte. Die älteren Kinder kauten sie roh, und für Martin kochte Maria-Magdalena süße Wurzeln mit Thymian. Dieses Getränk nannten sie „Steppentee“.

Trotz all dieser Bemühungen hinterließ der Hunger einen unauslöschlichen Eindruck. Die Jahre der Entbehrung blieben in Martins „Knochen“ stecken. Er wuchs klein, zart und kränklich. Die hungernde Kindheit hinterließ ihren traurigen Abdruck.

Doch das war später. Jetzt, während sie auf dem Bett mit dem Sohn auf dem Arm saß, tränkte Maria-Magdalena Martin mit Stutenmilch. Sein abgemagertes, erschöpftes Körper schien fast schwerelos. Nachdem sie den Kleinen getränkt hatte, drückte sie ihn so fest an sich, als fürchte sie, ihn zu verlieren. Tränen rollten über ihre Wangen, und sie vergrub ihr Gesicht in den dünnen Windeln, flüsterte bitter:

– Du bist umsonst auf diese Welt gekommen…

Diese Worte zerrissen Amalias Herz. Sie stand abseits und wagte nicht, sich zu nähern. Konnte man über die Geburt seines Kindes klagen? Schließlich ist das Kind ein Gottesgeschenk, auch in den schwersten Zeiten. Diese Gedanken erschreckten sie, aber sie verstand nicht, dass das Schicksal sie eines Tages mit einem ähnlichen Verzweifeln konfrontieren würde.

In den hungernden Jahren schien Kriwzowka ihre Seele verloren zu haben. Die Bevölkerung halbierte sich – die Menschen fielen leblos mitten auf der Straße um. Diejenigen, die noch auf den Beinen standen, mussten die verstorbenen Angehörigen vor die Tür tragen. Der Kirchenwagen, der bei jeder Kurve quietschte, sammelte jeden Abend die Leichname ein, um sie auf den Friedhof zu bringen.

Der Dorffriedhof wuchs innerhalb eines Jahres um das Doppelte. Die früher gepflegten Gräber mit Denkmälern und Zäunen gehörten der Vergangenheit an. Jetzt war die Erde hastig zugeschüttet, und es blieben nur Hügel und schief zusammengezimmerte Kreuze.

Eines Tages belauschte Amalia, wie ihre Eltern mit den Großmüttern über die „Kannibalen“ im benachbarten Dorf flüsterten. Das Mädchen wusste nicht, was dieses Wort bedeutete. Sie wagte es nicht, ihre Eltern zu fragen. Sie fürchtete, einen Verweis zu bekommen. Wenn sie nicht laut darüber sprachen, hieß das, dass es für Kinder nicht vorgesehen war, es zu wissen. Später, als Erwachsene, würde sie von Kannibalismus lesen und erschüttert sein. Amalia würde ihren Eltern dankbar sein, dass sie ihr und ihren Geschwistern nichts über Menschenfresser erzählt hatten.

Diese schreckliche Zeit brach sogar die liberale Lutheranerin Emma. Sie widersetzte sich nicht mehr, als Anna-Rosa ein Kreuz über die Eingangstür ihres Hauses hing und in jedem Raum Wände mit Ikonen bedeckt wurden. Sie schwieg, als die Katholikin einen Priester einlud, um ihr Heim zu segnen.

Um dem dichten Rauch des Weihrauchkessels zu entkommen, mit dem der Priester umherging, während er jedes Zimmer ihres Hauses segnete, lief Amalia in den Garten. Von dort aus beobachtete sie ruhig, mit einem nicht kindlichen Grinsen auf den Lippen, das religiöse Ritual. Es war leicht zu erraten, dass sie nicht an das Wunder dieses Ritus glaubte.

In der Schule hatte ihre russische Lehrerin ihnen längst erklärt:

– Es gibt keinen Gott! Das sind alles Großmutters Märchen.

Und obwohl Amalia Emma und Anna-Rosa über alles liebte, hatte sie nicht vor, ihren Predigten zu glauben.

Einige Tage später stürmte die dreizehnjährige Amalia laut die Stufen der Veranda hinauf, öffnete die Tür weit und trat fröhlich vor die Familie Leis. Wie immer dünn, sonnengebräunt, mit abstehenden Ohren und zerzausten Zöpfen. Um ihren Hals schimmerte ein rotes Halstuch, das mit einer Klammer in Form von Hammer und Sichel zusammengehalten wurde.

– Jetzt ist es definitiv das Ende der Welt! – rief Anna-Rosa aus irgendeinem Grund auf Russisch. Sie hatte nicht einmal die Kraft, auf den Beinen zu bleiben.

– Ich wurde in die Pioniere aufgenommen! – salutierte Amalia fröhlich. – Wir werden die strahlende Zukunft aufbauen.

– Es steht in den Büchern, – rief die Großmutter, kniend und die Augen rollend. – Ihr werdet kein Glück mehr auf der Erde haben. Ihr werdet euch oft den eigenen Tod wünschen.



Der Bürgerkrieg war zu Ende, die Weißen Garden waren besiegt, aber im Wolga-Gebiet setzten zahlreiche Banden und Truppen ihre Zerstörungen fort. Unter ihnen waren ehemalige kaiserliche Offiziere, Sozialrevolutionäre, Monarchisten, Anarchisten und wer weiß noch wer – alle standen der neuen Macht der Bolschewiki entgegen, zerrissen von persönlichen Konflikten und internen Kämpfen. Das Dorf Kriwzowka wechselte wieder den Besitzer. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, wofür oder gegen wen die neuen Besatzer kämpften. Vielleicht hielten sie ihre kaiserliche Treue, die es ihnen verbot, die Waffen niederzulegen. Oder vielleicht war es schon zu bloßem Raub und Gewalt geworden, ohne irgendetwas mit der Offiziersehre zu tun zu haben.

Georg interessierte sich nicht für Politik – seine Sorgen waren viel banaler. Wie es in einem Sprichwort heißt, „sieben auf der Bank“, und die Kinder mussten ernährt werden. Nicht weit vom Dorf, im Sumpfgebiet, gab es Rebhühner. Mit Netz und Schlingen bewaffnet, machte er sich noch vor dem Morgengrauen auf die Jagd. Bevor er ging, ermahnte er die Familie streng: Falls sie Gefahr spüren sollten, sollten sie sich sofort im Keller verstecken.

Das unterirdische Versteck, das von Großvater Johann gebaut worden war, war in der Tat eine Wohltat. Von der Straße und dem Haus aus war es unscheinbar – nur ein Hügel, der mit Gras und Sträuchern bewachsen war.

Maria-Magdalena wusste auch, dass es gefährlich war, tagsüber im Haus zu bleiben. Vor kurzem hatte eine verirrte Kugel das Fenster des Schlafzimmer durchschlagen und die Holzrahmen der Kinderwiege durchbohrt. Die Schutzengel hatten sie bewahrt – nur zehn Zentimeter tiefer und das Blei hätte den friedlich schlafenden Martin getroffen.

Und wieder begann das Schießen schon am Morgen. Unter dem Pfeifen der Kugeln suchte die Familie Leis hastig Unterschlupf im Keller. Dieses Mal entschieden sie sich, sich im Weinkeller zu verstecken: Durch die Tiefe und die steinerne Decke schien er der sicherste Ort zu sein. Die massive Eichentür mit dem kürzlich von Georg angebrachten inneren Riegel aus dickem Eisen vermittelte zusätzliches Sicherheitsgefühl.

Nachdem sie die Großmütter und Kinder auf den Regalen und Kisten platziert hatte, überprüfte Maria-Magdalena noch einmal sorgfältig, ob der Riegel fest geschlossen war.

Die Schießerei ließ erst gegen Mittag nach. Im Keller, als auf Kommando, ertönte lautes Kindergeschrei – seit dem Morgen hatte keines der Kleinkinder gegessen. In ihrer Eile hatten die Erwachsenen vergessen oder es nicht geschafft, etwas zu essen mitzunehmen. Maria-Magdalena, Mutter von sieben hungrigen Kindern, seufzte: Es gab keine Wahl – sie musste in den Garten gehen, wenigstens etwas Rettich, Zwiebeln oder Gurken sammeln.

Im völligen Dunkeln stieg sie tastend die steilen Stufen hinauf und hielt vor der massiven Eichentür an. Im Keller hielten alle den Atem an. Man hörte, wie Maria-Magdalena tief durchatmete, als wollte sie die Angst vor dem vertreiben, was sie draußen erwarten könnte. In völliger Stille hörte man ihre kurze Gebetsformel. Der Riegel knarrte, die Tür öffnete sich einen Spalt, und für einen Augenblick drang Sonnenlicht herein und erleuchtete die angespannten Gesichter derer, die im Versteck geblieben waren und sie mit ihren Blicken begleiteten.

Maria-Magdalena wurde lange erwartet, doch sie kam nicht zurück. Im Keller wuchs allmählich die Besorgnis. Nur die Großmütter und Amalia versuchten, ruhig zu bleiben. Die anderen Kinder, erschöpft vom Hunger, weinten wie Welpen und bettelten nach Brot.

Amalia, als ältere Schwester, übernahm die Verantwortung, die Kleinen zu beruhigen. Sie sang leise Lieder, erzählte Märchen und bat sie, durchzuhalten, versprechend, dass die Mutter bald zurückkehren und alle satt machen würde. Gleichzeitig versuchte sie, die Großmütter zu unterstützen, die angesichts der Sorge um ihre Tochter und Schwiegertochter kaum Ruhe fanden.

Stunden vergingen, doch Maria-Magdalena tauchte nicht auf. Die Situation wurde unerträglich. Schließlich, da sie dachten, dass sie nicht länger warten konnten, schlich sich die Familie vorsichtig aus dem Keller. Leise, in einer Reihe, schritten sie zwischen den Beeten in Richtung Haus. Es herrschte eine angespannte, bedrückende Stille.

Im Haus lag der scharfe Geruch von Zigarettenrauch. Die Strahlen der untergehenden Sonne, die durch die halb durchsichtige Luft brachen, beleuchteten die schwebenden Rauchschichten. Es schien seltsam – denn niemand in der Familie rauchte. Auf dem Tisch standen chaotisch Gläser, daneben lag eine leere Fünf-Liter-Flasche aus Branntwein, Reste von grünem Lauch und angebissene Gurken.

Maria-Magdalena fand man im Schlafzimmer. Sie saß am Rand des Bettes, eingehüllt in Fetzen ihrer zerrissenen Kleidung. Ihr dichtes, immer ordentlich geflochtenes Haar hing nun zerrissen zur Seite, halb geöffnet. Ihre Hände und ihr Oberkörper waren mit blutigen Flecken bedeckt, und sie drückte ein blutbeflecktes Kissen an ihren Bauch. Die schneeweiße Bettdecke war mit hellen roten Flecken übersät.

Ihr Blick war leer, als sei er in einem unsichtbaren Punkt auf dem Boden versunken. Ihre Lippen flüsterten kaum hörbar: – Wie weh… Oh Gott, wie weh…

Ihre gesenkten Schultern zitterten vor leisen Schluchzern.

– Malia, hol die Kleinen hier raus, – sagte eine der Großmütter fest und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

– Wartet uns in der Küche, – fügte die andere hinzu und schloss entschlossen die Tür des Schlafzimmers hinter den Kindern.

Die kleinen Schwestern und Martin, als hätten sie gespürt, dass ein großes Unglück über das Haus hereingebrochen war, verhielten sich still wie Wasser, tiefer als Gras. Keines der Kinder dachte an den Hunger. Alle saßen schweigend da, versunken in ihre kindlichen, aber bereits beunruhigten Gedanken.

In diesem Moment wollte Amalia sie alle verzweifelt umarmen, sie fest an sich drücken, wie es ihre Mutter getan hatte, und jeden von ihnen auf die Stirn küssen, um zu sagen, dass alles gut wird. Aber sie hielt sich zurück. Sie fürchtete, dass die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, jetzt hervorbrechen würden, und dass sie dann die neu gewonnene Ruhe verlieren würde, die sie für sie zu bewahren versuchte.

Die ältere Schwester richtete nur leise und fürsorglich die weiche, wellige Ponyfrisur auf Martins Stirn. Der jüngere Bruder schlief auf der Bank, zusammengerollt wie ein kleines Bündel, als wollte er sich vor der ganzen Grausamkeit dieser Welt verstecken, und legte seinen lockigen Kopf in ihren Schoß.

– Wie unpassend du geboren wurdest… – flüsterte Amalia, wiederholte die Worte ihrer Mutter. Aber im Gegensatz zu ihr klang in ihrer Stimme nicht der Vorwurf, sondern eine traurige Weisheit, die zu ihr früher als erwartet gekommen war. Es schien, als sei sie plötzlich erwachsen geworden und wusste klar: Das Leben würde nie wieder dasselbe sein.

Nach einer Weile hasteten die Großmütter, liefen im Haus umher. Mal holten sie Wasser, mal suchten sie nach einem Waschbrett. In ihren hastigen Bewegungen war eine angespannte Nervosität und unbestimmbare Besorgnis zu spüren.

Plötzlich berührte kalte Luft die Gesichter der Kinder – es war Großmutter Emma, die ihnen Eisstücke, in ein altes Handtuch gewickelt, vorbeibrachte. Es schien, als zitterten selbst die Wände des Hauses vor dem eisigen Atem, der von draußen hereinkam.

Dann versank alles wieder in Stille. Nur das gleichmäßige Ticken der Wanduhren erinnerte abrupt an die Zeit, die wie langsamer lief und die Momente der Ungewissheit dehnte.

Amalia hatte früher nicht gewusst, dass man im Sitzen schlafen kann. Bisher hatte sie das nie tun müssen. Es stellte sich heraus, dass es möglich war, obwohl der ganze Körper danach schmerzt und jeder Knochen schmerzt. Wahrscheinlich war es dieses Unbehagen, das sie geweckt hatte.

Draußen war es kaum Tag. Wären die Hühner noch auf dem Dorf, hätten sie sicherlich in diesem Moment den Beginn eines neuen Tages verkündet. Aber sie waren längst gegessen worden. Andere Vögel – Nachtigallen und Lerchen – schienen verschwunden zu sein, erschrocken vom kürzlichen Knallen der Schüsse, und hielten ebenfalls Stille.

Versuchend, ihren kleinen Bruder nicht zu wecken, schlich Amalia vorsichtig aus unter seinem Kopf und schob statt ihres eigenen Knies den Rucksack ihres Vaters unter. Wahrscheinlich hatte ihn jemand vom Hof hereingebracht.

– Papa ist zurück! – dachte das Mädchen. Überglücklich rannte sie ins Elternschlafzimmer, ohne darüber nachzudenken, was sie dort finden könnte.

Auf dem frisch bezogenen, schneeweißen Bett, in weiß gekleidet, lag Maria-Magdalena. Ihr Gesicht wirkte friedlich, als hätte sie einfach geschlafen, aber die Stille im Raum war unheilvoll. Auf beiden Seiten des Bettes saßen die Großmütter auf Stühlen, unbeweglich wie Statuen. Ihre Blicke wanderten von Maria-Magdalenas Gesicht hin zu nichts, unfähig, der Realität zu begegnen.

Am Fußende des Bettes, auf den Knien, krümmte sich Georg. Seine Schultern hoben sich schwer, er schluchzte und drehte nervös seine Mütze in den Händen.

– Es tut mir leid… es tut mir leid… – wiederholte er immer wieder zwischen seinen Tränen, als spräche er gleichzeitig zu seiner Frau und zu sich selbst.

– Mama! – schrie Amalia, als sie diese Szene sah. Plötzlich verblasste alles um sie herum. Der Raum wirbelte wie in einem Sturm, und das Mädchen, das das Bewusstsein verlor, fiel direkt neben die mit Moorerde befleckten Stiefel ihres Vaters zu Boden.

Später würde man ihr erklären, dass ihre Mutter an zwei Messerstichen in den Bauch gestorben war…

In tiefer Trauer feierte die Familie sowohl die neun Tage, als auch die vierzigsten Tage und den Jahrestag des Todes von Maria-Magdalena. Doch die Zeit schien stillzustehen, und mit ihr auch das Leben im Haus. Statt der Wärme und des Komforts, die sie gebracht hatte, herrschte für immer Halbdunkel und Kälte in den Wänden. Auch wenn die Lampen weiterhin brannten und der Ofen nach wie vor geheizt wurde, blieb die Atmosphäre drückend. Das fröhliche Kinderlachen war längst verklungen, und es schien, als sei mit ihm auch die Freude selbst verschwunden.

Der Vater suchte Trost in der Arbeit. Von frühmorgens bis spätabends konnte man ihn auf dem Feld oder im Stall finden, und oft blieb er dort über Nacht. Das Haus, mit jedem seiner Details, erinnerte ihn unerträglich an Maria-Magdalena.

Die Großmütter Emma und Anna-Rose, die in ihrem Schmerz gesenkt waren, trugen nun ständig Trauerkleidung. Ihre unbeschreibliche Trauer über den Verlust verband sie, und sie umgaben die Enkel mit doppelter Fürsorge. Doch Amalia sah nie wieder auch nur den Hauch eines Lächelns auf ihren Gesichtern.

Der Tod von Maria-Magdalena hatte endgültig die früheren Differenzen zwischen der lutherischen Emma und der katholischen Anna-Rose zerstört. Ihr Streit über den Glauben machte Platz für ein stilles, tiefes Verständnis, sodass es schwer vorstellbar war, dass sie sich einst gestritten hatten. Und am Ende, als ob auch hier eine verborgene Verbindung existierte, verließen sie diese Welt fast gleichzeitig, als ob der Tod sie nicht einmal trennen konnte.

Nach dem Tod der Großmütter lastete die ganze Last des Haushalts auf den Schultern des kinderreichen Vaters. Amalia, die älteste Tochter, tat alles, um ihm zu helfen, aber es war nicht genug. Anstatt sich in der Sorge um das Haus und die Familie zu vereinen, brach Georg zusammen. Vieles war ihm einfach zu viel.

Immer häufiger ging er in die Kneipe und kam betrunken nach Hause. Amalia wartete geduldig auf seine Rückkehr, half ihm, sich auszuziehen, und legte ihn ins Bett. Georg leistete keinen Widerstand, fügte sich still seiner Tochter, als wäre er ein Kind, dem der Wille verloren gegangen war. Dann schlief er ein, fiel in einen tiefen, vergesslichen Schlaf, in dem er vielleicht für einen Moment Ruhe fand.

Amalia hatte sich gerade auf der Bank unter dem Fenster niedergelassen, um ihre Strümpfe zu stopfen, als Georg plötzlich unerwartet erwachte. Er stieg aus dem Bett, ging zu seiner Tochter, streichelte sanft ihren Kopf und setzte sich schwer neben sie. Sein Gesicht war abgemagert, und seine Augen waren voller Qual.

– Ich habe deine Mutter getötet, – sagte er leise, aber so, als ob jedes Wort ihm schmerzlich schwerfiel.

Amalia sprang erschrocken auf, ließ ihre Strümpfe und Nadel fallen. Der Fingerhut klirrte auf dem Boden und rollte unter den Tisch.

– Was redest du da? – flüsterte sie, versuchte, ihre Stimme nicht zu erheben, damit die Jüngeren nicht aufwachten. – Hoffentlich hören die Kinder das nicht! Geh lieber wieder schlafen.

Georg rührte sich nicht, sein Blick war leer.

– Sie wäre noch am Leben, wenn ich damals, der Idiot, zugestimmt hätte, nach Amerika zu gehen, – fuhr er fort, als hörte er seine Tochter nicht.

Amalia seufzte, setzte sich vorsichtig neben ihn und umarmte ihn.

– Wer konnte das nur voraussehen? – antwortete sie leise und versuchte, ihn zu trösten.

Georg schüttelte den Kopf.

– Dein Onkel Heinrich hat mich gewarnt, – murmelte er, als spräche er mehr mit sich selbst.

Von ihm roch es nach Alkohol, aber in seinen Worten klang eine seltsame Klarheit, als ob sein Gedächtnis nüchtern geblieben wäre.

– Unmittelbar nach der Revolution drängten die Agenten des Umsiedlungskomitees in die deutschen Siedlungen an der Wolga, – begann Georg, seine Stimme war leise, aber von Bitterkeit durchzogen.

Amalia hörte schweigend zu und betrachtete das Gesicht ihres Vaters, als versuche sie, die Spuren einer längst getroffenen Entscheidung zu finden, die vielleicht ihr Schicksal verändert hatte.

– Sie werben dafür, dass unsere Leute in die USA auswandern, – fuhr Georg fort. – Es war kein Geheimnis, dass diese Agenten die Interessen der Bremer und Hamburger Dampfschifffahrtsgesellschaften vertraten. Ach, wie sie damals an uns, den Dummköpfen, ordentlich verdient haben, indem sie die Leute über den Atlantik transportierten. Unter den Werbern waren auch Söldner amerikanischer Landbesitzer. Sie brauchten Arbeitskräfte, um ihr riesiges Land zu bearbeiten.

Amalia nickte, versuchte sich die Versammlungen vorzustellen, von denen ihr Vater sprach.

– Bei uns zu Hause war so viel los, dass wir die Bänke vom Gartenzaun reinholen mussten, – fuhr Georg fort, den Blick senkend. – Neben mir saßen Vater Johann und dein Onkel Heinrich.

Er seufzte schwer, als ob er das Gewicht jener Entscheidungen wieder spürte.

– Der Agent war geschickt, er lächelte jedes Kind an und verteilte Lebkuchen, – Georges Stimme wurde schärfer, aber eher bitter als zornig. – Er war gut vorbereitet, wusste, wie er anfangen sollte. Mit süßen Worten und Versprechungen, genauso wie mit den Lebkuchen.

– Unser Agentur, – erklärte der Agitator. – hat Büros in Saratow, am Umschlagpunkt in Eitkun und natürlich in Amerika, – begann der Mann mit gepflegtem Gesicht und blickte mit einem Rundum-Blick auf die Versammlung. – Auf der gesamten Reise garantieren wir Ihnen Informations- und rechtliche Unterstützung, eine sichere Überfahrt auf dem Dampfschiff, eine Unterbringung und die besten Perspektiven für Bauern und Handwerker.

Seine Worte klangen sicher, aber die Hälfte von dem, was er sagte, war für die meisten Anwesenden unverständlich. Selbst die Kinder, die vor kurzem noch mit Appetit ihre Kekse gegessen hatten, saßen jetzt still, fast wie verzaubert.

– Gibt es Fragen? – fragte der Agent und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.

– Wo befindet sich dieses Eitkun? – fragte als erste Großmutter Emma, die Stirn gerunzelt.

– Ist es wahr, dass alle auf dem Schiff seekrank werden? – fragte schüchtern Heinrichs Frau, während sie ihr Kopftuch zurechtrückte.

Der Agent schien auf eine solche Wendung vorbereitet und versuchte zu antworten, aber wie eine aufgebrochene Dammbrücke, stürmten Fragen von allen Seiten herein:

– Was kosten die Tickets?

– Wie viel Gepäck darf man mitnehmen?

– Was für Geld gibt es in Amerika und kann man dort Rubel umtauschen?

Jemand sprang auf, um zu fragen, ein anderer, der die Antwort hörte, plumpste missmutig wieder auf die Bank zurück. Die Dielen knarrten laut, als Bänke und Stühle verschoben wurden. Jede Bemerkung wurde von einem Geräusch begleitet, als hätten alle im Raum beschlossen, ihre Bedeutung mit lautem Getöse zu beweisen.

Der Agitator versuchte zu lächeln, doch die Spannung in seinem Gesicht verriet, dass der Strom der Fragen und der Lärm selbst seine Geduld zu erdrücken drohten…

Georg verstummte für einen Moment, versank in Erinnerungen, dann fügte er leise hinzu:

– Aber damals hatte mich Heinrich schon gewarnt… Doch ich hörte nicht.

– Was gibt es noch zu besprechen? – unterbrach Heinrichs laute Stimme den Lärm, der durch die verschobenen Bänke und Stühle entstanden war. – Es ist doch schon klar, dass wir aus Russland fliehen müssen. Es spielt keine Rolle, was es kostet. Die Bolschewiken habenden Zaren und die Regierung gestürzt, wer weiß, was sie uns noch antun werden?

– Und warum sollten sie sich für uns interessieren? – grinste Georg, während er sich zu denen hinter ihm umdrehte. – Wir haben doch nichts Schlechtes getan.

– Und wir haben nie jemandem etwas Schlechtes getan, – beugte sich Heinrich über den Kopf des Vaters zu Georg. – Aber irgendwie wurde unser Dorf schon in ein russisches umbenannt, die deutschen Schulen wurden geschlossen. Hast du das vergessen? Sieh mal, bald wird es verboten sein, sich als Deutsche zu bezeichnen, und wir müssen unsere Namen ändern.

– Verbreite nicht so viel Angst, – rief Georg gereizt, – hast du etwa auch das Gedächtnis verloren? Denk daran, wie vor dreißig Jahren die Müller schon nach Amerika ausgewandert sind.

Der Raum verstummte plötzlich. Es schien, als ob sogar die Kinder für einen Moment den Atem anhielten und den schweren Worten lauschten. Eine so traurige Geschichte konnte man nicht vergessen.

Damals überlebten von siebzig Familien, die sich zur Auswanderung entschlossen hatten, nur vierzig die fünfjährige Odyssee und kehrten ins Dorf zurück – jedoch nicht so, wie sie gegangen waren: zu Fuß, mit Knüppeln in der Hand, mit einem Sack auf dem Rücken und ohne einen Heller in der Tasche. Sieben von ihnen erblindeten auf dem Rückweg.

In der Stille konnte man dieses Bild der Vergangenheit fast vor sich sehen, als ob es wieder lebendig geworden wäre. Für einen Moment schien es, als ob die Luft nach dem Staub der damaligen, harten Straßen roch.

– Aber sie sind doch nach Argentinien und Brasilien gegangen, – erklärte der Agent, und lächelte so, als ob er etwas sehr Einfaches erklärte. – Und wir bieten Ihnen Nordamerika an. Noch niemand ist von dort zurückgekehrt nach Russland.

– Und wird Ihr Komitee uns auch Land zur Verfügung stellen? – fragte Georg, die Augen leicht zusammengekniffen.

– Kostenlos geben wir nichts her, – gestand der Agitator ehrlich und zuckte mit den Schultern. – Aber es gibt günstige Kredite und Steuererleichterungen für die Landzuteilung.

– Und warum, sagen Sie, sollen wir, gute Leute, unser Land verlassen, nur um dort neues Land zu kaufen? – Georg lehnte sich vor, als versuche er, die Wahrheit direkt vom Agitator zu bekommen.

– Bei Ihnen handelt es sich nicht um privates Land, sondern um Gemeindeland, – korrigierte der Agitator Georg sachkundig. Seine Stimme wurde strenger und klang nun nach einem geduldigen Lehrer. – Übrigens, die Bolschewiken planen, dieses Land gleichmäßig unter allen Bauern aufzuteilen. Bereiten Sie sich darauf vor, dass viele Ihrer Felder an das benachbarte russische Dorf gehen. Dort ist jeder zweite ein landloser Armer.

– Niemand wird uns das Land wegnehmen, – widersprach Georg trotzig und schlug mit der Faust auf das Knie. – Wir haben alle Papiere dafür.

Der Agitator schmunzelte kaum merklich, aber antwortete nicht sofort. Er machte eine Pause, als ob er etwas Wichtiges sagen wollte, aber es sich anders überlegte. Es schien, als wollte er die letzten Illusionen der Anwesenden nicht zerstören.

– Sieht mal, was er sich für Gedanken macht! – sprang Heinrich, der Bruder, vom Stuhl, klopfte wütend auf die Rückenlehne der Bank. Sein Gesicht war rot, und seine Stimme war voller Empörung. – Vater, vielleicht solltest du ihm erklären, dass der Zar mehr Papiere und Urkunden hatte als er. Und was nützte es? Sie haben den Zaren und seine Minister genauso verjagt wie Hunde.

Der alte Johann, der in der Ecke saß, hob den Kopf und wischte langsam mit einem Tuch seine Augen ab, die schon lange keine Tränen mehr halten konnten.

– Wir müssen zusammenhalten, – sagte er mit gepresster Stimme, als antwortete er nicht nur seinem Sohn, sondern der ganzen Familie Leis.

Der Agitator, der den zunehmenden Streit bemerkte, ergriff höflich, aber bestimmt das Wort:

– Ich bin nicht hier, um politische Fragen zu diskutieren, – machte er eine Pause, als wolle er seine Neutralität betonen. – Meine Aufgabe ist es, Ihnen nur die Vorteile der Umsiedlung zu erklären und Ihnen bei der Bearbeitung der erforderlichen Papiere zu helfen.

Nachdem er seine Rede beendet hatte, sammelte der gepflegte Mann geschickt die Broschüren und Papiere vom Tisch, legte sie schnell in seinen Aktentasche und, nachdem er sich kurz von den Gastgebern verabschiedet hatte, verließ er das Haus eilig.

– Warum sollte den Bolschewiken und der Armen unsere Erde interessieren? – konnte Georg nicht aufhören, und starrte seinem Bruder wütend in den Rücken. – Die einen, die städtischen Weichlinge, wissen nicht, wie man sie bearbeitet, und die anderen, die Faulenzer und Bettler, wollen sich damit nicht beschäftigen.

Heinrich blieb im Türrahmen stehen und zögerte für einen Moment.

– Solange es noch nicht zu spät ist, – sagte er niedergeschlagen, drehte sich um und fügte hinzu – akzeptiere, Bruder. Ich fürchte, für deinen Trotz wird deine Kinder teuer bezahlen müssen.

Georg stand auf, verschränkte die Arme vor der Brust, und mit zusammengebissenen Zähnen rief er dem sich entfernten Bruder nach:

– Die Bolschewiken versprechen den Deutschen eine Autonomie!

Der Bruder drehte sich nur für einen Moment um, sagte jedoch nichts. Er schwenkte nur die Hand, als wolle er eine lästige Fliege vertreiben, und ging, ohne sich nochmals umzusehen, in den Hof.

Georg blieb in der Mitte des Raumes stehen, ballte die Fäuste so fest, dass die Finger weiß wurden. In der Stille konnte man das Quietschen des Gartentors hören, und dann verflogen Heinrichs Schritte in der Ferne.

Nachdem er seine Erzählung beendet hatte, nahm der Vater sanft Amalias Hand, küsste jeden Finger und sprach mit schwerem Herzen:

– Der Herr hat uns Amerika als Erlösung gesandt, und ich habe Seine gnädige Hand abgelehnt. Ich werde mir das niemals verzeihen!

Vom Vater roch es nach Alkohol, doch in seinen Worten war keine verschwommene Trunkenheit zu spüren. Sein Gedächtnis war klar, und der Schmerz war wahr und tief…

Einige Tage später fand man seinen Leichnam weiter unten am Flusslauf der Wolga.

– Ein guter Mann war er, – sagte der alte Nachbar bei der Beerdigung, – nur leider konnte er mit dem Kummer nicht fertig werden.

Mit siebzehn Jahren fiel es Amalia zu, das schwere Schicksal zu tragen, die Leiterin und Ernährerin von sechs Waisenkindern zu werden.

Die Bolschewiken hielten ihr Wort. Den Deutschen an der Wolga wurde 1927 die ASSR – die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik – gewährt. Das Dorf Kriwzowka wurde wieder Müller genannt. Die Felder, die wie nach einem langen Winter in der Erde ruhten, begannen wieder üppig zu gedeihen. Die grausame Lebensmittelabgabe wurde durch wesentlich geringere Abgaben ersetzt. Die landwirtschaftlichen Betriebe erlebten eine Wiederbelebung, nahmen an Stärke zu und entwickelten sich erneut.

Doch nicht bei den Leis. In ihrer Familie gab es niemanden mehr, der das Land bearbeiten konnte. Es fehlte an Mitteln, um Arbeiter zu beschäftigen.

Im Sommer mussten Amalia und ihre Schwestern Maria und Emilia zur Tagelohnarbeit bei wohlhabenden Dorfbewohnern gehen. Sie ernteten das Getreide, sammelten Kartoffeln und erledigten jede schwere Arbeit auf dem Feld. Im Winter rettete sie das Handarbeiten. Dank ihrer Großmutter Emma konnte Amalia seit ihrer Kindheit nähen und schneiden. Die weiße Nähmaschine in der Ecke des Zimmers wurde zu einem echten Rettungsanker. Sie nähte Kleider, Bademäntel, Hemden und Schürzen, strickte Fäustlinge, Socken und sogar warme Pullover. All das wurde verkauft oder gegen Essen eingetauscht.

Für ein Stück Brot kümmerten sich die Schwestern um fremde Kinder, wuschen Wäsche und reinigten Böden. Sogar der neun Jahre alte Martin versuchte zu helfen. Jeden Tag ging er zum Ufer der Wolga, sammelte Reisig und schleppte es unter schwerem Atem nach Hause, um den Ofen zu heizen.

Von diesem Bild wurde Amalia das Herz blutig. Aber sie redete sich ein, dass es besser war, als um Almosen zu betteln. Doch auch davor schützte sie der Herr nicht.

Anfang der dreißiger Jahre war das Wetter für die Wolga-Region gnädig. Es gab nicht zu viele Regenfälle, aber auch keine Dürre. Doch trotz alledem kam erneut Hunger. Brot war nicht zu bekommen – weder zu kaufen noch zu verdienen. Es verschwand, als hätte es nie existiert.

Die gebildeten Dorfbewohner machten die Bolschewiken und die beginnende Kollektivierung für das Unglück verantwortlich. Im Dorf Müller gab es noch keinen Kollektivbetrieb, aber viele ahnten, dass es früher oder später auch sie treffen würde.

Amalia suchte nicht nach Schuldigen. Sie zerbrach sich nur den Kopf darüber, wie sie ihre Familie ernähren konnte. Manchmal war sie so verzweifelt, dass sie den Drang verspürte, sich das Leben zu nehmen. Doch wenn sie in die erloschenen Augen der Kinder blickte, die abgemagert und erschöpft still am Tisch saßen, als hätten sie Angst, bei der Essensverteilung leer auszugehen, fand sie die Kraft, weiterzumachen.

Sie streifte durch die Felder auf der Suche nach zurückgelassenen Kartoffeln oder verlorenen Getreidekörnern. Manchmal fand sie etwas Essbares, aber häufiger nicht.

Eines Tages erzählte ihr eine Nachbarin, die die Waisen besuchen wollte, dass sie gesehen hatte, wie Renata am Sonntag mit ausgestreckter Hand an der katholischen Kirche stand, und die Zwillinge Anna und Rosa an der lutherischen. Die Nachbarin verurteilte sie nicht, da sie verstand, wie schwer es für die Waisen war, und brachte einen Beutel Hirse und ein kleines Stück Schmalz.

An diesem Abend schlug Amalia Renata zum ersten und einzigen Mal ins Gesicht.

– Ich werde nicht zulassen, dass unsere Familie sich schämt! – rief sie mit erstickter Stimme.

Renata schwieg, biss nur die Lippe zusammen und wandte den Blick ab.

Nach diesem Vorfall schien es, als seien die letzten Reste von Amalias Gefühlen erloschen. Das Mädchen mit der roten Schleife, das von einer hellen Zukunft träumte, war nicht mehr.

Bald bereute Amalia bitter ihre Tat. Der Herbst 1932 brachte einen weiteren Schock. Renata, die vom ständigen Hunger verzweifelt war, hatte bei der Scheune einige Maiskolben gefunden und aß sie ohne nachzudenken. Sie wusste nicht, dass die Körner mit Rattengift behandelt worden waren.

Das Mädchen konnte nicht gerettet werden. Noch am selben Abend starb sie in Qualen in Amalias Armen.

In Wut und Verzweiflung zerrte Amalia sich an den Haaren, weinte und umarmte den leblosen Körper ihrer Schwester. Sie beschuldigte sich selbst, die Hand gegen Renata erhoben zu haben, dafür, dass sie sie nicht beschützen konnte, für alles, was um sie herum geschah.

– Ich bin an allem schuld! – schrie sie, als sie zur Scheune rannte, wo ihre Schwester gestorben war.

Sie war bereit, den Besitzer der Scheune mit bloßen Händen zu erwürgen, doch die Nachbarn hielten sie zurück.

– Amalia, beruhige dich, es ist ein Unglück, kein böser Wille, – versuchten sie, das Mädchen zu trösten.

Aber Amalia hörte nicht zu. Es schien ihr, als stürze die Welt um sie herum ein, als hätte sie noch ein weiteres Stück ihrer Familie verloren und mit ihr auch sich selbst…

In den letzten Monaten ergriff eine wahre Tragödie das Dorf. Amalia sah fast täglich, wie Leichname ihrer verhungernden Dorfbewohner auf Schlitten an ihrem Haus vorbeigeschafft wurden. Erstarrt und in alte Lappen oder Tücher gewickelt, wurden sie zu einem überfüllten Friedhof gebracht.

Als es an der Reihe von Renata war, bat Amalia die Nachbarn nicht um Hilfe. Sie dachte nicht einmal daran. Sie wickelte den leblosen Körper ihrer Schwester in das weiße Tuch, das von ihrer Großmutter übrig geblieben war, und legte ihn auf den alten, quietschenden Schlitten.

Der Weg zum Friedhof war besonders schwer. Der Schneeboden gab nach, und der Schlitten bewegte sich kaum. Aber Amalia hielt nicht an.

Als sie das Grab ihrer Mutter erreichte, machte sie ein kleines Feuer, um den gefrorenen Boden zu erwärmen. Ihre Hände gruben mit Mühe den gefrorenen Boden, aber ihre Gedanken waren nur auf eines gerichtet: Renata sollte neben der Mutter ruhen.

Als alles fertig war, seufzte Amalia schwer und spürte nicht nur körperliche Erschöpfung, sondern auch eine tiefe Leere in sich.

Maria und Emilia blieben währenddessen zu Hause und kümmerten sich um die Jüngeren, wie Amalia es ihnen befohlen hatte. Keiner von ihnen ahnte, was ihre Schwester an diesem Tag durchgemacht hatte…

Im Haus wurde es noch stiller. Anna und Rosa, die einst die Räume mit fröhlichen Stimmen erfüllten, standen schon lange nicht mehr vom Bett auf. Ihre schwachen Körper hielten den Belastungen des Hungers kaum stand. Alle Versuche von Amalia und den verbliebenen Schwestern, die Mädchen irgendwie zu ernähren, scheiterten. Die Zwillinge konnten nicht einmal schlucken.

– Vollständige Körperdystrophie, – sprach der Sanitäter kühl und hoffnungslos, als er auf Bitten der Nachbarn ins Haus kam. – Hier hilft keine Medizin.

Ein paar Tage später verließen Anna und Rosa diese Welt. Amalia und Maria wickelten die Mädchen mit ihren eigenen Händen in die halben Laken vom elterlichen Bett. Ohne Sarg, wie auch Renata, wurden sie auf dem Friedhof beigesetzt. Diesmal wurden die Zwillinge über ihrem Vater, neben den Gräbern von Mutter und Schwester, beigesetzt.

Amalia saß lange zwischen den frischen Hügeln. Die gefühllose Stille um sie herum schien ein dumpfer Schrei zu sein, der wie ein Echo in ihrem Herzen widerhallte. Erst gegen Abend stand sie auf, um nach Hause zu gehen. Doch plötzlich versagten ihre Beine, und sie fiel auf das Grab ihrer Mutter.

Dumpfes Schluchzen brach aus ihrer Brust. Die starke, standhafte Amalia, die ihr Leben lang wie ein Felsen stand, hielt nicht mehr durch. Die Verluste, die ihre Familie nacheinander zerrissen hatten, verwandelten diesen Felsen in Sand.

Die Tränen flossen unaufhörlich und tränkten die kalte Erde. Amalia lag da, ohne den beißenden Frost, die einbrechende Nacht oder sich selbst zu spüren…

Mit 22 Jahren hatte Amalia sieben Mitglieder ihrer Familie beerdigt. Jeder Schlag des Schicksals hinterließ tiefe Narben in ihrer Seele. Es schien, als hätte sich ihr Leben in eine endlose Reihe von Verlusten und Entbehrungen verwandelt, in der jedes neue Jahr nur Leid und Verzweiflung brachte.

Mit jedem Tag fühlte sich Amalia immer erschöpfter, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Ihr Herz war hart wie Stein, nicht aus Übermaß an Kraft, sondern aus der Notwendigkeit, in einer Welt zu überleben, die keinen Platz für Schwäche ließ.

Doch selbst in ihren dunkelsten Gedanken konnte sie sich nicht vorstellen, welche noch härteren Prüfungen das Schicksal für sie bereithielt. Ihr Leben, das ohnehin schon von Verlusten zerrissen war, stand eine neue Welle erschütternder Tragödien bevor, die alles endgültig auf den Kopf stellen würde…

***

Am Abend klopfte es an die Tür. Die Wanduhren von Leis hatten sie kürzlich gegen ein paar Rüben eingetauscht – aber Amalia schaute aus Gewohnheit auf die leere Wand.

– Es muss etwa sieben Uhr sein, – dachte sie. –Wer könnte das zu so später Stunde sein?

Gäste erwarteten sie sicher nicht. Die ganze Familie saß zusammen am Tisch und trank vor dem Schlafen eine Art Tee – mit heißem Wasser übergossene, auf dem Ofen getrocknete Rübenhäute.

Während sie darüber nachdachte, dass in solch einer Kälte und bei diesem Frost keine Fremden in ihr Dorf kommen würden, öffnete Amalia – ohne zu fragen, wer es sei – die Tür. Aber diese Menschen kannte sie mit Sicherheit nicht. Als erste betrat eine Frau das Haus. Amalia hatte das Gefühl, dass sie riesig war wie ein Felsen – in einem weiten, männlichen Schafpelz und Stiefeln. Sie wurde von drei Männern begleitet, die ebenfalls winterlich gekleidet waren. Zwei von ihnen hielten Kerosinlampen in den Händen.

Amalia entdeckte das Abzeichen in Form einer Fledermaus auf dem Glas. Nicht jeder im Dorf konnte sich diese windbeständigen Petroleumlichter leisten – die aus Deutschland mitgebracht worden waren. Diese Lampen gab es nur bei den wohlhabenden Dorfbewohnern. Auch Leis hatte eine – die der Vater normalerweise beim Angeln und Jagen mitnahm. Doch im vergangenen September musste Amalija diese gegen einen Sack Maiskolben eintauschen.

Die Frau schüttelte den Schnee von ihren Schultern und Kragen – der den ganzen Tag über unaufhörlich fiel – und ging, ohne ein Wort zu sagen, an Amalia vorbei zum Tisch, an dem die drei Leis, verwirrt, sitzen geblieben waren. Dann – ohne irgendetwas zu erklären – ging sie ins Elternschlafzimmer. Amalia sah durch die Türöffnung, wie sie behutsam und sogar zärtlich die dort stehende Wiege streichelte. Danach schaute die unerwartete Besucherin ins Kinderzimmer und zuletzt in das dritte Zimmer, in dem früher die Großmütter geschlafen hatten. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, legte sie ihren Pelzmantel auf die Bank unter dem Fenster. Alle sahen ihren riesigen Bauch.

– Schwanger, – dachte Amalia – und wahrscheinlich dachten das auch ihre Schwestern.

– Lebt ihr hier zu viert?, –fragte die werdende Mutter die älteste von Leis.

Amalia nickte nur stumm.

– Nun, sammelt eure Sachen und räumt das Haus leer, – fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu. – Jetzt gehört es uns.

– Warum ist unser Haus jetzt eures?, – fragte Amalia in schlechtem Russisch – nicht bereit, eine solche Frechheit zu akzeptieren und nicht glaubend, dass ihr das gerade wirklich passiert.

– Hier wird jetzt die Kolchose-Verwaltung sein.

– Warten Sie – was bedeutet Kolchose? Wohin sollen wir dann gehen?

– Das ist jetzt nicht mehr unser Problem. Also – packt eure Sachen und haut ab.

Die Frau setzte sich erschöpft auf den Stuhl, auf dem vor kurzem noch Amalia gesessen hatte. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf die auf dem Tisch liegenden Zeichnungen von Martin – schob sie dann achtlos auf den Boden. Ein einfacher Bleistift rollte zu den Füßen der ungebetenen Gäste, die an der Tür standen. Einer der Männer hob ihn auf. Martin lief zu ihm und versuchte, seinen Bleistift wieder zu bekommen.

– Gib ihn her!, – bat der Junge schwach – eher als Forderung.

Stattdessen gab der grobe Mann dem Kind einen Schlag auf den Hinterkopf und steckte den Bleistift in seine Tasche.

Amalia zog Martin schnell zu sich. Die Schwestern tauschten still Blicke aus und bewerteten die Situation. Die ältere Schwester übersetzte ins Deutsche, was diese Leute von ihnen verlangten. Natürlich hätten sie sich wehren sollen. Die dünne, große Amalia hatte keine Angst davor, sich zu prügeln. Und die Schwestern waren längst keine Teenager mehr – einundzwanzig und neunzehn Jahre alt. Aber sie wussten sehr gut, dass die Kräfte ungleich waren. Gegen drei bewaffnete Männer konnten sie nichts ausrichten. Und die lautstarke schwangere Frau schien schwerer zu sein als die ganze Familie Leis zusammen. Gegen diese Leute konnten sie ihr Haus weder mit Stärke noch mit Worten verteidigen.

– Wir müssen gehen, – sagte Amalia traurig und zuckte mit den Schultern in Richtung ihrer Familie.

– Warum steht ihr dort im Türrahmen? – fragte die neue Hausherrin laut die Männer, die mit ihr gekommen waren. – Bringt unser Zeug rein. Und hängt morgen früh die Plakate an das Haus. Morgen beginnen wir, die Bauern in den Kolchos einzutragen.

Nachdem sie sich angezogen hatte, sah Amalia sich um. Es gab nichts, was sie mitnehmen konnten. Alles, was sie noch besaßen, trugen sie gerade. In den Truhen und auf den Regalen war fast nichts mehr. Der einzige Wertgegenstand war die handgekurbelte Nähmaschine. Der Tragegriff war abgebrochen, also musste sie die Maschine in einen Kartoffelsack stecken. Martin half Amalia dabei, und sie betete:

– Hoffentlich nehmen sie sie uns nicht weg!

Die Schwestern packten jeweils ein Bündel in ein Tuch.

– Beeilt euch! – drängte die schwangere Kommandantin sie.

– Ihr werdet doch selbst bald Mutter, – versuchte Amalia plötzlich, Mitleid zu erwecken, – wohin sollen wir denn gehen? Draußen ist es eisig! Selbst wenn wir im Schuppen oder Stall Unterschlupf finden, werden wir bis zum Morgen erfrieren.

– In welchem Schuppen? – stemmte die Frau ihre Hüften. – Dort wird unser Lager sein, und im Stall kommt die Kolchospferde. Geht zu den Nachbarn. Habt ihr keine Bekannten? Bestimmt nehmen sie euch auf.

– Wer wird uns aufnehmen? – bettelte Amalia mit gefalteten Händen. – Alle hungern, und wir sind vier unnötige Mäuler.

– Ich habe dir schon erklärt, Mädchen, – sagte die Frau, – das interessiert mich nicht. Ich habe einen Befehl, eine neue Parteiordnung zur Gründung des Kolchos. Euer Haus eignet sich am besten dafür. Ich kann doch nicht in einer Hütte den Hauptsitz für die sozialistische Zukunft eures Dorfes aufbauen.



– Vielleicht erlaubt ihr uns wenigstens, hinter dem Ofen niederzulassen? Wir hängen ein Vorhang auf. Niemand wird uns hören oder sehen.

– Was soll das? Dass ihr mir hier unter den Füßen herumlauft? Verzieht euch!

– So sieht also der Sozialismus aus, – dachte Amalia weinend, schulterte den Sack und fügte beim Verlassen in die Kälte hinzu, – eine helle Zukunft für obdachlose Waisen.

Draußen, den Kopf nach allen Seiten drehend und sich immer tiefer in den Kragen wickelnd, kam ihr plötzlich eine Idee. Amalia erinnerte sich an den Keller, der sie früher vor den Kugeln gerettet hatte.

Durch den tiefen Schnee eilte die Familie Leis, in einer Reihe gehend, zum Ufer der Wolga. Im Weinkeller herrschte eine erträgliche Temperatur. Es gab nichts, womit sie kochen konnten, sodass sie auch ohne Ofen auskamen. Doch hier war es feucht, und Amalia bedauerte, dass sie den Vaters Schafspelz, der immer bei ihnen hinter dem Ofen hing, nicht mitgenommen hatte. Der hätte ihnen hier sehr geholfen.

Nachdem sie den Schwestern den Auftrag gegeben hatte, eine Schlafstelle aus Holzkisten zu bereiten, fasste Amalia sich ein Herz und ging allein wieder ins Elternhaus.

Ohne auf die vier unerwünschten Eindringlinge, die am Tisch saßen, zu achten, ging Amalia schweigend zum Ofen und nahm den Pelzmantel, der dort hing. Die neue Hausherrin war so beeindruckt von diesem Mädchencourage, dass sie fast erschrak, doch sie zeigte es nicht. Ihre Gefährten blieben ebenfalls stumm.

Nachdem sie den Pelzmantel über ihren Mantel gezogen hatte, dachte Amalia einen Moment nach. Es war offensichtlich, dass sie an etwas sehr Wichtiges dachte. Nachdem sie sich mühsam zwischen dem Ofen und dem Stuhl der schwangeren Frau hindurchgequetscht hatte, zog die älteste Leis das Kinderwiege aus dem Elternschlafzimmer.

– Halt! – brüllte die Kommandantin, ohne aufzustehen, und schlug mit der Faust auf den Tisch, woraufhin einer der Männer aufsprang und Amalia den Weg versperrte.

Bereit, alles zu tun, griff Amalia nach dem Teekessel mit heißem Wasser, hob ihn hoch und schrie wütend:

– Ich werde dich gleich verbrühen!

Und dann wandte sie sich langsam an die schwangere Frau, dabei jedes Wort betont und deutlich aussprechend:

– Die Wiege ist verflucht. Sie ist schon seit zwei Jahrhunderten in unserer Familie. Ich rate davon ab, ein fremdes Kind hinein zu legen.

Der Mann, der mit ausgebreiteten Armen vor Amalia stand, sah fragend zu seiner Vorgesetzten.

– Lass sie nehmen, – seufzte die schwangere Frau und strich sich über ihren Bauch, – zum Teufel mit diesen Deutschen!

Amalia, den Teekessel immer noch fest haltend und das Familienerbstück hinter sich herziehend, verließ stolz das Haus und schlug die Tür so heftig zu, dass die neue Hausherrin erschrocken auf ihrem Stuhl hochschreckte.

– Was für eine Kämpferin! – kratzte sich ein besonders grober Kommilitone an der Brust und sagte, als er Amalia nachsah, – muss heißblütig sein.

Er schaute beiläufig aus dem Fenster und verfolgte, in welche Richtung Amalia ging, wobei die Spuren der Wiege sich im Schnee hinter ihr zogen.

Spät in der Nacht wachte die Familie Leis im Keller vom lauten Klopfen an der Tür auf. Betrunkene Kommilitonen hatten sie dort gefunden.

– Macht auf, ihr Schlampe! – schrien sie durcheinander und hämmerte gegen die Tür.

Im gleichen Moment ertönte ein Schuss, und die durchdringende Stimme ihrer Kommandantin übertönte die drei Männer:

– Verzieht euch sofort! Schnell ins Haus!

An den sich entfernenden Geräuschen von knackendem Schnee unter ihren Füßen konnte man erraten, dass die Männer auf ihre Chefin hörten. Laut jammernd über die Hunde, ging die Frau ebenfalls fort. Hinter der Tür wurde es still, aber in dieser Nacht konnte niemand in der Familie Leis mehr schlafen. Sie drängten sich noch enger zusammen und beteten, dass der Morgen schnell komme.

Sie mussten hier weg. Sie wussten, dass sie in diesem Moment von dieser Frau gerettet worden waren, aber früher oder später würden die lüsternen Männer wieder versuchen, ihr Ziel zu erreichen. Doch keine der Schwestern wusste, wohin sie gehen sollten. Am nächsten Tag fanden sie am Ufer der Wolga einen dicken Baumstamm und schleiften ihn in den Keller, um die bereits massiven Türen zu stützen. Sie nahmen auch schwere Holzscheite mit und bewaffneten sich damit.

So, in dem Versuch, nicht bemerkt zu werden, lebten sie mit Mühe und Not eine Woche im Keller und verschlossen immer wieder die Tür hinter sich.

Und sie fürchteten sich zu Recht. An einem Abend – es war gerade dunkel geworden – versuchten die betrunkenen Kommilitonen erneut, in ihr Versteck einzudringen. Das grobe Klopfen, unterbrochen von betrunkenem Lachen und Drohungen, riss die Stille entzwei. Doch wieder rettete sie die schwangere Vorsitzende.

Nachdem sie die Männer vertrieben hatte, klopfte sie an die Tür.

– Macht auf! – rief sie heiser, atmete schwer vor Wut und vielleicht auch vor Erschöpfung.

Amalia gehorchte.

– Wisst ihr, meine Schönen, – begann die Frau von der Türschwelle, dabei drückte sie ihren riesigen Bauch mit beiden Händen, – ich habe nicht vor, euch weiterhin von diesen Hunden zu beschützen. Ich habe meine eigenen Sorgen. Also weg mit euch, und zwar schnell.

Überzeugen musste sie sie nicht. Die Familie Leis sammelte in Sekunden ihre bescheidenen Habseligkeiten und verließ den Keller.

Am Türrahmen blieb Amalia stehen, drehte sich um und übergab der Vorsitzenden den großen Schlüssel zum Schloss.

– Na gut! – murmelte die Frau, während sie den Schlüssel in ihren Händen drehte. – Ich werde hier besonders die angetrunkenen und wilden Kerle einsperren.

Die Vorsitzende warf einen letzten Blick auf die Kinder und die schwangere Amalia und fügte leise hinzu:

– Viel Glück euch. Lebt, wie ihr es könnt, aber hier dürft ihr nicht mehr sein…

So entstand das Gefängnis im Kolchos. Jetzt riskierten die betrunkenen Kommilitonen, die früher alle in Angst versetzt hatten, im Keller eingesperrt zu werden für ihre Ausraster. Der erste, der dort eingesperrt wurde, war der Pastor der kürzlich zerstörten lutherischen Kirche. Seine Verhaftung wurde als weiterer Schlag gegen die religiöse Gemeinde wahrgenommen.

Der katholische Priester hingegen, der die Gefahr ahnte, gelang es, zu fliehen. Er verließ das Dorf heimlich, in der Nacht, und überquerte die Grenze, um Zuflucht in Preußen zu finden. Die Nachricht von seiner Flucht verbreitete sich schnell im Dorf und hinterließ eine Mischung aus Erleichterung und Verzweiflung bei denen, die noch hofften, ihren Glauben in dieser schweren Zeit zu bewahren.

Wieder ohne Dach über dem Kopf, saßen die Reste der einst großen Familie Leis spät abends am Ufer der zugefrorenen Wolga. Der Frost war beißend, aber es gab keinen Rückweg. Maria, Emilia und Martin, bemüht, sich zu wärmen, drängten sich dicht aneinander unter dem Vaters Pelzmantel. Amalia fand darunter keinen Platz. Sie saß etwas abseits, die Hände am Rand der Wiege haltend, die sie aus dem Haus gerettet hatte.

Sie fror, ihre Zähne klapperten vor Kälte, und ihre Hände, von der ständigen Arbeit bereits wund, zitterten unkontrolliert, wobei sie die Wiege immer wieder sanft schaukelte. In ihr war alles, was von ihrem Zuhause übrig geblieben war: ein paar Pakete mit Kleidung, ein paar Lumpen und das wertvolle Muttertuch, das Amalia wie ein Heiligtum bewahrte.

Sie hob den Kopf und blickte in den Himmel, der von Millionen Sternen übersät war. Mit Tränen in den Augen lächelte sie und flüsterte:

– Keine Sorge, Anna-Rosa, – sie sprach zu ihrer verstorbenen Großmutter, als ob diese sie hören konnte, – es ist nicht leer. Alles, was von unserem Haus übrig ist, ist da.

Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolfsweibchen, doch die Familie Leis saß regungslos da, als hätte der Frost nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Seelen erstarrt.

Amalias Bewusstsein wurde von einem bitteren, unerträglichen Gedanken verbrannt:

– Es hätte ganz anders sein können!

Sie drückte ihre erfrorenen Hände an ihr Gesicht, um das aufkommende Schluchzen irgendwie zurückzuhalten, doch in ihrem Kopf drehten sich weiterhin qualvolle Bilder.

– Wenn Papa nur zugestimmt hätte, mit Heinrich nach Amerika zu gehen, – tadelte sie sich innerlich, – dann hätten sie Mama nicht vergewaltigt und umgebracht. Die Großmütter hätten nicht so sehr trauern müssen. Vielleicht hätten wir noch gelebt. Papa hätte sich nicht selbst zerstört.

Ihr Blick fiel auf ihren jüngeren Bruder Martin, der sich fest unter dem Pelzmantel zusammengekauert hatte, als fürchtete er, die letzte Wärme zu verlieren.

– Wenn unsere Eltern noch am Leben gewesen wären, wären Renata, Anna und Rosa sicher nicht verhungert. – Sie schloss die Augen, versuchte, die Erinnerungen an ihre Schwestern zu vertreiben, doch stattdessen tauchten ihre blassen Gesichter und erloschenen Augen vor ihrem inneren Blick auf.

Als sie wieder den Blick zu den Sternen hob, spürte Amalia, wie der eisige Wind ihr scheinbar direkt ins Herz kroch und die letzten Reste Hoffnung hinaustrieb.

– Herr, warum? – flüsterten ihre trockenen Lippen lautlos, und nur der himmlische Frieden antwortete.



Amalia fühlte, wie der Schlaf sie allmählich verschlang und sie aus der grausamen Realität in die Welt der Träume entführte. Die Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete, schien sie mit einer weichen, schwerelosen Decke zu umhüllen. Ihre Lider fielen schwer, und vor ihren Augen begannen Bilder zu flimmern, die voller Glück waren, das sie nie gekannt hatte.

Sie stellte sich vor, wie sie mit der ganzen Familie auf dem Deck eines schneeweißen Dampfers standen. Ein leichter Wind wehte ihre Kleidung, und die türkisfarbenen Wellen rollten sanft unter dem Schiffsrumpf und trugen es zu einem fernen, märchenhaften Land.

Vater und Onkel lächelten, gekleidet in feine weiße Hemden mit Umlegekragen, strenge schwarze Krawatten und lange, gelbliche Kaftane. Ihre polierten Stiefel glänzten, reflektierten das Sonnenlicht, und ihre Hüte saßen mit Würde auf ihren Köpfen. Ihre Stimmen vereinigten sich zu einem fröhlichen Lied:

Vor dem Fenster stehen die Kutschen vor der Tür,

Wir fahren mit den Frauen, mit den Kindern!

Wir fahren in das ruhmreiche Land,

Dort gibt es so viel Gold wie Sand!

Tru-ru-mo-mo, tru-ru-mo-mo,

Schneller, schneller – nach Amerika!

Neben ihnen standen die Großmütter, Mama, Tante und alle Mädchen Leis, wie lebendig gewordene Puppen in festlichen Kleidern. Die schwarzen Röcke mit roten Mustern schwingen sanft, wenn sie gehen, Händchen haltend. Weiße Hemden mit weiten Ärmeln, eine blaue Weste mit glänzenden Knöpfen und festliche Hauben machten sie wie Heldinnen aus einem alten Märchen. Weiße Perlenketten schmiegen sich eng an ihre Hälse und glänzen im Sonnenlicht.

Auf dem Deck wurden sie von Menschen in schwarzen Fracks, funkelnden Weste und schneeweißen Handschuhen umgeben. Sie lächelten freundlich und boten ihnen heißen Kaffee und feine belgische Schokolade an. Amalia lachte, als sie die Süßigkeit probierte, die sich auf ihrer Zunge ausbreitete und einen Nachgeschmack des Glücks hinterließ.

In diesem Traum gab es keinen Hunger, keinen Schmerz oder Verlust. Es gab nur Freude, familiäre Wärme und Hoffnung auf die Zukunft.

Aus diesem nebeligen Zustand des Wahnsinns riss Amalia ein scharfer, dröhnender Schuss. Er halte durch die stille Nacht und ließ das Mädchen zusammenzucken. Ihr Blick schärfte sich sofort, und sie drehte instinktiv den Kopf in Richtung des Heimathauses. Unter den Fenstern, erleuchtet von dem schwachen Licht einer Petroleumlampe, lachten die betrunkenen Kommilitonen und die schwangere Vorsitzende laut und schienen in die Luft zu schießen, um die Gründung des Kolchoses "Weg des Iljitsch" zu feiern.

Amalia umklammerte den Rand der Wiege, und aus ihrer Brust drang ein verzweifelter Schrei:

– Vater! Was hast du uns angetan?

Der Schrei schien die nächtliche Stille zu zerreißen, aber er verschwand sofort im Wind, der ihn forttrug.

Sie schloss die Augen, versuchte, den aufkommenden Schmerz zu beherrschen, doch plötzlich spürte sie, dass jemand neben ihr stand. Amalia hob den Kopf, und vor ihr, als käme er aus dem Boden, tauchte ein Junge auf.

Trotz der schlechten Beleuchtung erkannte sie ihn sofort. Es war der Sohn des Dorfschmiedes – ein kräftiger, großer junger Mann mit klarem, entschlossenem Blick. Sein Gesicht war angespannt, doch es zeigte eine seltsame Mischung aus Mitgefühl und Besorgnis.

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